Cover Literaturcafe Kopf
Corona

Kurzgeschichten...

In Zeiten der Verunsicherung verändert sich der Blickwinkel
auf unsere Welt – und bei uns, den Autoren vom Literaturcafé Troisdorf, wortwörtlich. Einige der Texte, die wir veröffentlichen, sind humorvoll, andere machen nachdenklich und ein paar auch traurig, die meisten geben uns aber Hoffnung. Hoffnung, dass wir diese Krisen gemeinsam irgendwie überstehen werden.

Wie erleben Sie das Heute? Schreiben Sie uns, von ihren Sorgen, Erlebnissen oder was Sie in diesen Zeiten gerade beschäftigt.

Per E-Mail: kontakt@literaturcafe-troisdorf.de
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oder per Brief: Literaturcafé Troisdorf, Lülsdorfer 9, 53842 Troisdorf-Spich

Alltag heute...



Inhaltsverzeichnis

Autorin Maggy Ziegler Blind Date 26.01.2022
Autor Michael Blum Freud 26.01.2022
Autorin Maggy Ziegler Liebeslied 20.01.2022
Autor Dieter Drechsler Corona Blues 15.01.2022
Autor Michael Blum Lampe 14.01.2022
Autor Dieter Drechsler Ikarus 01.07.2021
Autorin Maggy Ziegler Natürliche Übernahme 05.04.2021
Autor Michael Blum Lasst mich doch alle in Ruhe … 19.02.2021
Autor Dieter Drechsler Die Kluft zwischen Aluhutträgern und Anderen 10.02.2021
Gastautorin Victoria Pavot Virusmonate in der Stadt 10.02.2021
Autor Michael Blum Hauruck 25.01.2021
Autor Dieter Drechsler Die Maske 21.01.2021
Autor Michael Blum Bilanz 07.01.2021
Autor Dieter Drechsler Das zeitlose Geschenk? 10.12.2020
Autor Michael Blum Verführung 27.11.2020
Autorin Elena Ratzlaff Gesellschaft 22.11.2020
Autorin Maggy Ziegler Nur im Märchen? 22.11.2020
Autorin Elena Ratzlaff Zwillings-Gedichte 21.11.2020
Autorin Hedwig Bäte Dezember 20.11.2020
Gastautorin Christa Schmidt Der Säugling 17.11.2020
Autor Dieter Drechsler Von Corona lernen? 17.10.2020
Autorin Maggy Ziegler Vom Umgang mit schwierigen Zeiten 09.10.2020
Gastautorin Christa Schmidt Der Geier 19.09.2020
Autor Dieter Drechsler Der ungehörte Mahner 26.07.2020
Gastautorin Christa Schmidt Das Alter 02.07.2020
Autorin Elena Ratzlaff Fernweh 05.06.2020
Autor Dieter Drechsler Eine interessante Begegnung 23.05.2020
Gastautorin Christa Schmidt Leben 13.05.2020
Gastautor Heinz Strehl Der weiße Fleck 10.05.2020
Autorin Elena Ratzlaff Entstehung 07.05.2020
Autor Dieter Drechsler Gespenstisch 03.05.2020
Autor Frieder Döring Die Liebe in den Zeiten von Corona 30.04.2020
Autorin Maggy Ziegler Es reicht!? 28.04.2020
Autor Dieter Drechsler Bienensterben 24.04.2020
Autor Michael Blum Homeoffice 15.04.2020
Autor Michael Blum Homeoffice - Die Fortsetzung 30.04.2020


Weitere Kurzgeschichten zum Thema "Maienleier" finden Sie hier.



Blind Date

Eine Recherche aus der guten, alten Zeit, geschrieben A.D. 2011 Blinddate, oder auch: Wie blind muss man sein, um an neu.de zu glauben

Wir beobachten heutzutage Krankheiten, die es bis vor ca. 15 Jahren noch gar nicht gab. Die Pest ist inzwischen nahezu ausgerottet, doch der Begriff, sich nur zwischen Pest oder Cholera entscheiden zu können, ist weiterhin gebräuchlich. Es ist immer wieder bedauerlich, dass die Entscheidung eines Menschen, nur einen lieben zu wollen, als eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera beschrieben wird.
Um nun aber doch im Sinne Friedrich Schillers: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet…“ eine Entscheidung treffen zu können, werden heute völlig andere Wege beschritten, als das vor 50 Jahren der Fall war. Nicht, dass neue Methoden grundsätzlich schlecht wären, aber leider kommt es bei bestimmten Prüfverfahren immer wieder zu einer Infektion mit dem Single-Netz-Virus: Dieses Krankheitsbild möchte ich hier kurz skizzieren:
Die infizierte Person sitzt 3 bis 4 Stunden am Abend am Computer, leider allerdings ohne vorher eine genaue Auflistung helfender Faktoren zu erstellen, die bei der Auswahl und Prüfung nützlich wären, wie z.B.:
Muss Rittersporn mögen
Muss eine griechische Nase haben
Muss wie meine Mutter kochen können
Muss meinen Mercedes lieben können
Muss die Lieder von Andrea Berg mögen
Eine solche, hilfreiche Stichwortsuche bleibt den Patienten auf Seiten wie „neu.de“ oder „Partnersuche.virtuell“ verwehrt.
Dadurch wiederum kommt es zu einer Reiseaktivität, die an sich ausgleichend gegen das lange Sitzen am Computer positiv zu bewerten wäre. Aber durch die Tatsache, dass diese Reisen am Termin selbst mit akuter Blindheit verbunden sind, sind diese Reisen, was die Bekämpfung des Single-Netz-Virus angeht, nicht hilfreich.
In besonders schlimmen Fällen kommt es zu Zwangshandlungen mit 2-3 Blinddates pro Woche. In einigen Fällen versuchen die Patienten noch im Vorfeld die Blindheit etwas zu reduzieren, in dem sie sich in sogenannten Schnatterstuben, oder auch Chatrooms, verabreden, aber auch dort wird weniger das Lastenheft überprüft, sondern es werden die vom Virus verursachten Schönfärbereien und Tatsachenverschleierungen eher sprachlich schlicht kommuniziert.
Der Single-Netz-Virus ist aber nur durch Wahrheit zu bekämpfen!
Das Krankheitsbild jedoch zeigt immer wieder, dass Infizierte um die Wahrheit einen möglichst großen Bogen machen. Es handelt sich hierbei um die gleichen Mechanismen, wie sie bei professioneller Werbung benutzt werden.
Patienten machen dann Werbung für sich selbst, nach dem Motto: Na, wie wär‘s mit uns Beiden!

Fassen wir das hier einmal modern, in sogenannte Rapper-Lyrik:

Erotisch bin ich auf der Höh'
wenn ich in braune Augen seh'
Mein Sexappeal ist ungebremst,
darum nennt man mich Heißer Hengst!
                                        Na? Wie wär's denn mit uns Beiden???
Heißer Hengst sucht Hoppelhase.
Ihn erkennt man an der roten Nase
und sie an dem gestreiften Hut –
Blinddate Pferd mit Hase – das ist Mut!

Erotisch bin ich ganz toll drauf
Bin Tigerkralle und reiß alle Weiber auf!
Ich brauch 'nen Mann- egal wie mies!
Bin ein kleines Frettchen und so süß!
                                        Na? Wie wär's denn mit uns Beiden???
Frettchen, süß, trifft Tigerkralle
In einer Kneipe namens Mausefalle
Am Tresen krallt der Tiger ziemlich steif
das Frettchen ist schon 50 – also überreif.

Erotisch mach ich echt was her
Darum nennt man mich Bull, der Speer!
Bin Vöglein klein auf deiner Brust
und reiß den Schnabel auf vor Lust!
                                        Na? Wie wär's denn mit uns Beiden???
Bull, der Speer trifft Vögelein.
Bull ist knapp 1,60, also eher klein
Und Vöglein kriegt den Schnabel niemals zu
sie quatscht den Bullen tot beim Date, nun hat er Ruh!

Lass dich überraschen - nimm ein Blinddate an
Jeder lügt sich voll die Taschen
Jeder sucht was zum vernaschen
Jeder wird dich da verar…..
ganz egal ob Frau - ob Mann!

Es handelt sich, wie oben bereits beschrieben, um eine Virus-Erkrankung aus alten, längst vergangenen Zeiten und Ärzte oder Apotheker haben bisher kein Medikament dagegen gefunden, vor dessen Risiken und Nebenwirkungen sie uns hätten warnen können.

Autorin Maggy Ziegler





Freud

Wann war aus ihrer beider Schlafzimmer eigentlich ein Studierzimmer geworden? Immer häufiger dazu genutzt, die aktuelle Belletristik zu erkunden; zuweilen konnte man sogar das Kreischen von Bleistiften vernehmen, wenn es galt, die hervorragenden Passagen zwecks Erinnerung zu unterstrichen.
Wann war das erste Mal der Gedanke aufgekommen, dass die Kultur dabei war, das Körperliche abzulösen und dass die Fülle des zu bewältigenden bedruckten Papiers auch eine Fülle an Zeit benötigte und anderes dafür wohl auf der Strecke geblieben war? Zwar las jeder von ihnen in seinem eigenen Buch, so waren sie aber doch auf eine Weise vereint. Sie forderten ihren Geist, nicht ihre Körper. Der Geist war in Bewegung, die Körper hatten sich zu beruhigen.
Und schließlich war alles Geistige ja Resultat einer Sublimierung – der strikten Beherrschung und Kontrolle des Triebes mittels Umlenkung in die kulturelle Produktion. Ihre so gewachsene, triebbereinigt-bedürfnislose Zweisamkeit erfuhr dann aber doch einmal eine Irritation, als der eine noch lesen, der andere aber schon das Licht löschen wollte, zwecks Hingabe an den sich bereits ankündigenden Schlaf.
Und schon bald fragte sich jeder der beiden, ob es nicht doch genau anders herum wäre, dass nämlich die Kultur nicht die Konsequenz einer umgeleiteten Lust wäre, sondern vielmehr die Folge einer schon längst vollständig entschwundenen Lust, zu verstehen als ein depressiongleicher Bewältigungsversuch.
Mit Blick auf den Stapel der noch ungelesenen Bücher aber, ward dieser ungeliebte und doch recht ketzerische Gedanke schon schnell ein Opfer der Verdrängung.

Autor Michael Blum





Liebeslied

Die Sterne fliegen in funkelnden Bahnen,
meine Gefühle, mein Denken, alles fliegt auf Dich zu.
Voller Goldstaub lieg ich in Deinen Armen
und höre den kosmischen Liedern zu.

Ich lausche still
es klingt das Du.

Ich bin dieses Kind aus dem alten Märchen,
in mein Hemd, meinen Schoß fallen goldene Taler.
Einfach geschenkt, wie das Lied der Lerchen,
im Feld, in den Wiesen an Sommertagen.

Ich lausche still
es klingt Dein Fragen

Die Sonne, der Mond liegen in meinen Händen
Dich umfassend, gieß ich sie in Dich hinein.
Silbern und golden schimmert die Seele,
wie ein guter, alter, wärmender Wein.

Ich lausche still
es ist alles gesagt!

Autorin Maggy Ziegler





Corona Blues

Seit Tagen warte ich, dass irgendetwas passiert.
Dass die Welt untergeht, auf einen Anruf, oder ein Arzt im futuristischen Schutzanzug vor meinem Bett steht und mir sagt, dass ich Corona habe, und nur noch zwei Wochen leben werde.
Na und?
Ich sitze im Bett und warte.
Worte durchdringen das Warten. »Wie wäre es mit einem Spaziergang, es ist ein wunderbarer Tag, sonnig und die Vögel singen«.
Die Worte verhallen ungehört. Mir ist nicht nach Sonne und Gesang. Ich sitze im Bett und treibe in einem unerschöpflichen Strom aus Zeit und leeren Gedanken.
Es gab eine Zeit, da war es anders. Nichts war vor mir sicher. Mir sah man keine Mühen an. Nie! Ich schwebte über den Dingen, wo andere in die Knie gingen.
Das war zu einer anderen Zeit, - vor Corona. Jetzt ist mir nicht mehr - nach Welt und sitze im Bett und warte.
Aber auf was denn? »Auf was denn? Auf was denn?« Unterbricht ein inneres Echo rüde die leeren Gedanken. »Auf was denn?«
Der strukturlose Strom der Zeit, der mich bis jetzt gelassen trug, bildet Wirbel. Mein Bett gibt mir plötzlich keinen Rückhalt mehr.
Auch die Gedanken bäumen sich auf, überschlagen sich, als müssten sie die verlorene Zeit aufholen, und entlassen mich niederträchtig in die Realität.

Autor Dieter Drechsler





Lampe

Wie unter einem Sternenzelt hatte es sein sollen, mit ihrer neuen Lampe, im Schlafzimmer, direkt über dem Bett.
Angekommen in einem Alter, wo man sich nicht mehr ganz so direkt in einem Spiegel dabei beobachten mag.
Die Sterne wollten sie sich im wahrsten Sinne des Wortes noch einmal vom Himmel holen; ein Neubeginn hatte es sein sollen: ‚Walking on the milky way‘. Davon hatten sie geträumt. Wohl hatten sie sich noch einmal ordentlich ausleuchten wollen, auf einen erneuten Liebesfunken gehofft.
Nun prangten die Sterne am Deckenzelt – mit ihrem kalten Licht, das sie nicht mehr berühren konnte.

Autor Michael Blum





Ikarus

Plakate von bekannten und weniger bekannten Artisten, Entertainern und aufwändigen ShowLesungen zeugen davon, dass es für die Künstleragentur vor Corona schon mal bessere Zeiten gab.
»Lange halte ich das auch nicht mehr aus«, seufzt Friedrich Westermann und schubst resigniert die Computermaus beiseite, denn die Inzidenzwerte haben sich ein weiteres Mal nicht verbessert. Hinzukommt dass, obwohl er seine Veranstaltungspläne mit einem unerschütterlichen Optimismus nahezu wöchentlich neu organisiert, mehr und mehr Entertainment-Unternehmungen und Künstler einfach vom Markt verschwinden.
Ein Schatten hinter der gläsernen Eingangstüre und der Gong unterbrechen Friedrich Westermanns trübe Gedanken. Er drückt selbst den Türöffner, denn seine Sekretärin, seit einem halben Jahr in Kurzarbeit, kommt nur noch an einem Tag der Woche in die Agentur. Ein schlanker junger Mann betritt das Büro und sieht sich unsicher um. Dabei gleitet sein Blick bewundernd, beinah ehrfürchtig über die Plakate, ehe er sich Friedrich Westermann zuwendet, der ihm entgegengegangen ist.
»Guten Tag, mein Name ist Ikarus«, stellt sich der Besucher leise vor.
»Ikarus, mein Gott, wie kommt man nur auf solch einen Namen?«, überlegt Friedrich Westermann, »egal, das lässt sich ändern«, begrüßt coronakonform seinen Gast und sie lassen sich auf der Sesselgruppe für Besucher nieder.
»Womit kann ich ihnen dienen?«, beginnt Friedrich Westermann das Gespräch, obwohl es eigent-lich eindeutig ist.
»Also«, der Besucher zögert ein wenig, ehe er weiterspricht, »für mich ist es das erste Mal, dass ich mich bei einer Agentur vorstelle.«
»Irgendwann fängt jeder mal an«, antwortet Friedrich Westermann mit jovialem Unterton. »Sind sie denn schon mal aufgetreten?«
Der Besucher schüttelt den Kopf. »Noch nie. Das kam durch die Pandemie. Aber dadurch hatte ich reichlich Zeit meine neue Fähigkeit zu trainieren und zu verfeinern.«
»Ja, das geht jetzt vielen so«, antwortet Friedrich Westermann anteilnehmend. »Was machen sie denn?«
»Äh ich? - Fliegen!«
»Fliegen?«, wiederholt Friedrich Westermann verblüfft, denn von der Statur seines Besuchers her hätte er alles andere vermutet. »Mit dieser Disziplin sind sie nicht alleine. Es gibt Artistenfamilien, die machen das seit Generationen«, fügt er hinzu, und erinnert sich dabei an durchtrainierte athletische Trapezartisten.
»So wie ich fliegen die Anderen aber nicht«, erwidert sein Besucher überraschend selbstbewusst. »Sie können sich sicherlich vorstellen, dass sich alle ihrer Kollegen mit einer solchen Überzeugung bei mir bewerben«, dämpft Friedrich Westermann die Erwartung seines Gegenübers.
»Verstehe«, nickt sein Besucher und zeigt auf den breiten Korridor. »Ich könnte ihnen hier ein Looping vorführen«.
Friedrich Westermann winkt müde ab. »Lassen sie mal, das Büro scheint mir nicht der richtige Ort dafür zu sein«.
»Schade, dann wird es wohl nichts«, stellt sein Besucher enttäuscht fest und fragt, »würde es ihnen ausmachen, wenn ich ein Fenster öffne?«
»Es ist zwar der sechste Stock, aber wenn sie wollen«, antwortet Friedrich Westermann mit einer großzügigen Geste, denn auf Grund der Pandemie hört er derartige Wünsche nicht zum ersten Mal. Der Artist erhebt sich, öffnet in aller Ruhe das Fenster und schwingt sich anschließend auf die Brüstung.
Entsetzt springt Friedrich Westermann auf. »Um Himmelswillen Ikarus bleiben sie, wir werden bestimmt eine Lösung für sie finden!«
Der Artist winkt ab. »Ach wissen sie, ich habe es nicht weit bis nachhause, und hier in ihrem Treppenhaus kommen ja einem dauernd Leuten ohne Masken entgegen«, breitet seine Arme aus, springt - und verschwindet nach einem gekonnten Looping um die Ecke.

Autor Dieter Drechsler





Natürliche Übernahme

Ein paar Tage über Ostern verbringe ich auf Rügen, genauer gesagt in Sassnitz, einer Stadt, die nicht vom Tourismus, sondern vom Hafen und der Fischfabrik geprägt ist. Ich bin nicht das erste Mal hier. Eine Stadt voller Brüche, so sagt es die evangelische Pastorin, die hier schon seit der Wende arbeitet. Aber eben ehrlicher als die Fassaden der Touristenmetropole Binz. Am Ostersonntag werde ich eingeladen: „Eine Gruppe von hier macht morgen einen Osterspaziergang zum Hafen von Mukran, haben Sie Lust mitzulaufen?“ fragt die Pastorin.
Ich gehe mit, obwohl es windig und ziemlich kühl ist in diesen Ostertagen auf Rügen. An Karfreitag hatten wir noch ein kurzes Schneetreiben über dem Wasser der Ostsee. Hinter dem alten Hafengelände von Sassnitz beginnt der Weg. Nicht Richtung Kreidefelsen, genau entgegengesetzt. Es geht zu einem Gedenkstein. Er liegt in dem Wald, der sich an der Küste entlang zieht. 6. und 7. März 1945, ein Angriff auf Sassnitz noch in den allerletzten Kriegstagen. Die Stadt hat den alten Gedenkplatz um einen zusätzlichen Stein erweitert, auf dem wurden die Namen der Kinder und der Frauen eingraviert, die hatte man bei dem ersten Stein vergessen.
Die ersten grünen Blättchen an den vielen Buchensträuchern lassen den Wald wirken, als wären lichte grüne Schleier aufgehängt, die hohen Bäume sind noch nicht so weit. Der Wind spielt mit den Wolken, immer wieder bricht die Sonne hervor und in einem dieser Momente sehe ich ein Stück weit rechts im Wald eine Mauer. Nein, nicht eine Mauer, eine Hauswand mit Fenstern, leere Fensterhöhlen. Kein Dach, aber nichts deutet darauf hin, dass es vor Urzeiten eine Kapelle oder Ähnliches gewesen sein könnte. Ein Stück neben dem Weg liegt eine Säule, eine Marmorsäule zwischen Schlüsselblumen und Anemonen, ein stacheliger Ilex hat rechts und links mit seinen harten Blättern die Säule gefasst. Noch ein Stück tiefer im Gebüsch wirbelt der Wind die trockenen Buchenblätter vom letzten Jahr auf und es sind Stufen zu erkennen, Marmorstufen, in deren Fugen sich die ersten kleinen Löwenzahnblätter auffalten. In der Türöffnung ist ein Birkenstämmchen gewachsen, eine Trauerbirke mit hängenden Zweigen. Eine andere Birke schaut schon über die Mauer hinweg zu mir und schüttelt ihre langen Zweige im Wind. An den Hauswänden kriecht Efeu hinauf, dunkelgrün, die Blätter der letzten Jahre.' Ich lasse die Gruppe vorgehen und tauche ein in dieses Gebüsch, in dieses Stück Wald, dass ein Haus erobert, das einmal sehr stattlich, groß und mit edlem Material erbaut worden war. Die Natur ist auf Eroberungskurs, vielleicht noch 100 Jahre, dann sind die Mauern verfallen und das Haus ist im Wald verschwunden.
Ein seltsames Gefühl von Macht, Unausweichlichkeit, Überwindung und Verfall kriecht an meiner Wirbelsäule hoch. Es schüttelt mich und ich beeile mich, wieder zu der Gruppe zu kommen. Am Ende des Weges oberhalb der neuen Hafenbecken von Mukran haben freundliche Menschen einen Tisch aufgebaut, Tee, Kaffee, bunte Eier, Osterkuchenlämmer werden den hungrigen Wanderern angeboten. Ich suche das Gespräch mit der Pastorin.
„Ja, das war mal eine große Gründerzeitvilla, eine reiche Fabrikantenfamilie hat sie sich gebaut, ja, und dann war da ein Schulungshaus der Nazis,
und dann ein Haus für die SS,
und dann hatten die Russen dort ihr Quartier,
und dann war es Ausbildungsstätte für die Nationale Volksarmee…“
Noch einmal rinnt der Schauder über meinen Rücken. Und jetzt, jetzt wird der Bagger irgendwann hier her kommen und die Menschen machen sich auch an diesem Küstenstreifen breit? Oder aber die Buchen, der Ilex und die Birken werden in den nächsten Jahren immer höher und höher wachsen….

Autorin Maggy Ziegler





Virusmonate in der Stadt

Ich gehe durch die Stadt, die Straßen sind fast menschenleer, draußen weht klischeehafter Frühling, der trotz der Pandemie ein Gedicht schreiben möchte, ein blaues Band, einen Blumenduft. Die Menschen sind wie Zeitbomben, sie tragen Mundschutz und weichen zurück, wechseln die Straßenseite, als wäre jeder ein potentieller Feind, ein Infizierter, eine spürbare Nemesis auf dem Asphalt.
Ich gehe zum Bäcker, vor dem Laden lobt eine Frau meine Schuhe, wir werfen uns vorsichtige Worte zu, mit genügend Abstand, ein Augenlächeln, einen Moment. Danach stehe ich vor dem Bioladen und warte, bis ich eintreten darf, nur zwei Menschen dürfen gleichzeitig einkaufen. Ich ziehe die große Kapuze über den Kopf. Vor einigen Monaten hatte ich mir diesen post-apokalyptischen Mantel mit dem asymmetrischen Schnitt gekauft. Nun hat er seine Berechtigung, ich laufe durch diese Kulisse, die ich sonst aus dystopischen Romanen kannte. Nun habe ich die passende Kleidung dafür. Im Laden spreche ich durch eine Wand aus Plexiglas und kaufe Zimtschnecken, in Erinnerung an meine Uroma, dir ihr Rezept vor langen Jahren mit in das Grab nahm, mir wird kurzzeitig warm ob der Erinnerung und ich vergesse das Szenario vor der Tür.
Als ich hinausgehe, reden zwei alte Damen über Klopapier, anscheinend wollen sie sich versichern, mit sauberen Hintern in den Weltuntergang zu blicken. Ich denke genau diesen Gedanken und fühle mich komplett absurd. Das normale Leben, die Tagesabläufe, alles kommt mir vor, wie aus einer anderen Welt. Gefühlte Lichtjahre entfernt. Nicht mal ein Monat ist vergangen und schon erscheint die Zeit ewig, die geschlossenen Läden sind einsame Gebäude im Frühling, der alle mit seinem blauen Band verarscht.
Ich schnüre den Mantel neu und mache mich auf den Heimweg. Ein Mann mit einem großen Hund kommt mir entgegen, wir sind uns gestern schon begegnet, er fragt mich, ob ich bei der nächsten Begegnung einen ausgebe, ich lächle und bejahe, in einem anderen Leben hätte ich nichts gesagt, jetzt wertet man jedes Lächeln, jede Geste, jede Gelegenheit für ein Bier als ein gutes Zeichen, eine Zeitverkürzung, eine Erleichterung abseits der heimischen, unangenehm knarzenden Skype- Fenster.
 Ich wollte eine weitere post-apokalyptische Geschichte verfassen. Hier ist sie, ich musste mir diesmal nichts ausdenken, die Realität hat sie ganz alleine ausgeschmückt, hoffentlich trug sie dabei einen Mundschutz.

Gastautorin Victoria Pavot /Essen





Lasst mich doch alle in Ruhe …

Ich hab langsam die Nase voll – und zwar gestrichen voll! Ständig was Neues, immer was Anderes, heute so und morgen so… und wenn ich dann am Abend auf den Tag zurückblicke, dann ist er nie so abgelaufen, wie ich ihn mir am Morgen vorgestellt hatte!
Kann nicht einfach mal alles so geschehen wie angedacht?
Kann nicht einfach mal alles so bleiben wie es ist?
Jetzt mal so als Beispiel – die Übergangsjacke.
Wir könnten problemlos das rituelle Begräbnis der Übergangsjacke zelebrieren – es gäbe keinen Widerstand, niemand würde protestieren; dieses Kleidungsstück ist schlichtweg nutzlos geworden; heute noch ein windig-kühl-verregneter Herbsttag, morgen Hochsommer und übermorgen Schneechaos in Madrid… Ich werde sie aber trotzdem nicht entsorgen, meine Übergangsjacke; weil, wenn es ja konstant wärmer wird in der Welt, ist genau dieses Teil das optimale neue Winterstück.
Oder auch wie sich Wichtigkeiten verändern.
Nichts ist mehr richtig planbar; wo früher noch die Pünktlichkeit und der Verlass ein Wert waren, da musst du heute flexibel sein; Verabredungen sind zu Optionen degeneriert, es könnte ja noch ein attraktiveres Angebot kommen - und was passiert? Die spontane Lust des Augenblicks obsiegt der Verlässlichkeit. Man hat dann was Besseres vor. Das Bessere als der Feind des Guten. All das getarnt mit dem Spruch, man habe so wenig Zeit, man würde mal schauen, wie und ob man es hinbekäme… der Stress würde einen auffressen, man wisse noch nicht genau. Wohl sind die Menschen zu einem chaotischen Haufen sich selbst umkreisender Monaden geworden.
Und auf die Arbeit ist auch schon lange kein Verlass mehr… morgen plötzlich ins Homeoffice, übermorgen wieder zurück ins Büro; darauf dann irgendwie halbe-halbe; komme mir langsam vor wie ein Wanderarbeiter „Heute hier… morgen dort… - bin kaum da, muss ich wieder fort…“ aber ohne dass man diesem Vagabundendasein irgendeine Form von Romantik abgewinnen könnte.
Man merkt es ja auch im ganz Kleinen.
Immer dieser Staub überall, legt sich auf alles. Wo kommt der eigentlich her – kann sich aus dem Nichts heraus ein Etwas materialisieren? Ist das chemisch, physikalisch oder sonstwie überhaupt möglich? Ja, der Staub hat Beständigkeit – und wenn man nichts gegen ihn unternimmt, bleibt er einfach liegen. Schnee schmilzt – Staub bleibt! Um ihn nicht unnötig aufzuwirbeln, habe ich mir mal über Wochen hinweg eine absolute Bewegungsreduktion verordnet – hat nichts genutzt. Der Staub kommt und bleibt. Und der Staub wird mehr. Und ich kann irgendwann nicht mehr drüber hinwegsehen, er drängt sich mir auf, zwingt mich förmlich zum Handeln, will weggewischt und entsorgt werden, boykottiert mein Ruhebedürfnis. Das ist doch auch nicht zu viel verlangt – einfach mal seine Ruhe haben dürfen!
Es gibt nicht mehr so viele Konstanten im Leben. Und jetzt auch in der Politik nicht mehr. Ich meine, Frau Merkel ist doch irgendwie echt in Ordnung – ich jedenfalls hab mich über die Jahre an sie gewöhnt – ein wahres Bollwerk gegen die Zeit, diese Frau. Und jetzt will sie nicht mehr und ich muss wieder mal abstimmen, aktiv werden, mich entscheiden – hat man ja an Amerika gesehen, was dann alles passieren kann. Würde ich hier nicht wollen. Störung der Ruhe.
Von wegen ‚ruhiger Fluss‘ oder sogar ‚stehendes Gewässer‘ – ein reißender Wasserfall ist das Leben!
Und von wegen ‚Stillstand ist Rückschritt‘ – Stillstand ist Komfort! Meine persönliche Ruhezone. Aber nein – Demokratie ist schließlich Arbeit und kein Selbstläufer und da muss man was für tun, dass sie erhalten bleibt. Ach wär‘ ich doch langsam in Rente oder im Stande der Ruhe, wie es so schön heißt. Und warum sind eigentlich alle so unzufrieden? Ich meine, wir haben doch alles – und wenn ich was brauche, gehe ich halt in ein Geschäft – und wenn das nicht geht, dann lasse ich es mir halt liefern. Da bin ich ganz bescheiden. Ich brauch nicht viel. Und was soll eigentlich das ganze Gerede, dass wir Wachstum brauchen, weil sonst angeblich der unaufhaltsame Niedergang von allem drohe? Ist doch paradox, dass es angeblich ohne was dazu dann zwangsläufig weniger werden soll. Ist die Wirtschaft etwa wie Schnee – der ohne was drauf bald verschwindet. Mein Staub wird ja auch nicht weniger, sollte er sich entschlossen haben, auf weitere Anhäufung zu verzichten – er stabilisiert sich sogar durch einen wie von selbst entstehenden Fettüberzug. Und wenn ich nicht mehr Kaffee in meine halbvolle Kaffeetasse schütte, dann wird er doch nicht automatisch weniger, es sei denn ich trinke davon. Nun gut – über die Monate hinweg wird sich der Kaffee in etwas anderes verwandeln.
Oder jetzt mal anders ausgedrückt – wir müssten uns also gewissermaßen ständig fortbewegen, um weiter auf der Stelle treten zu können? Um nicht zurückzufallen? Was ist denn das für ein Quatsch? Womöglich wird dieses Phänomen von irgendeiner Wissenschaft irgendwann als die ‚Notwendigkeit einer dynamischen Stabilisierung‘ beschrieben werden.

Also nein – ich habe da keinen Spaß dran! ‚My home is my castle‘ – und gut ist’s.

Und jetzt noch diese Pandemie mit den ständig neuen Verhaltensregeln, wo morgen schon alles wieder anders sein kann, als es heute geregelt war. Aber ich will mal ehrlich sein – ein bisschen liebgewonnen habe ich sie schon, die Pandemie. Wenn dann alles so runtergefahren ist… und wie ruhig das letzte Weihnachtsfest war. Auf nichts hab ich mich neu einstellen müssen! Sonst sind meine drei Töchter jedes Jahr mit einem anderen LAB – also Lebens-Abschnitts-Gefährten – aufgefahren und haben mich schon Wochen vorher gebrieft für das erste Kennenlernen am zweiten Weihnachtstag – auf dass es auch im Zwischenmenschlichen ein schönes Weihnachtsfest werde. War stets froh, wenn es dann vorbei war. Jetzt konnte ich ohne irgendein Gemeckere durch die Programme zappen – in all den Jahren vorher gab es ja immer so eine Art Kommunikationsdruck und Besinnlichkeitszwang – da war der Fernseher natürlich tabu gewesen.
Zu Silvester habe ich – ich bin da ganz ehrlich – nicht auf das neue Jahr angestoßen, auf dass etwas anders werde. Nein, im Gegenteil: Ich habe mir gewünscht, es bliebe alles so wie es ist. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch – die Corona-Toten müssten nicht sein.
Nun ja – es ist alles viel ruhiger geworden; ich sehe und höre auch mehr Vögel – und die haben mich schon immer in meinem Leben beruhigen können. Und wenn das Leben bei dir so richtig an Tempo aufgenommen hat, dann kriegst du nichts mit Vögeln mit, weil dir dann einfach Hören und Sehen vergangen ist.
Ich meine, wir haben ja in den letzten Jahrzehnten eine dermaßene Beschleunigung erlebt, das hat einen ja regelrecht aus der Kurve gehauen. Da ist es doch vielleicht gar nicht so verkehrt, mal so richtig auf die Tempobremse zu treten. Mal auf Standby zu gehen. Mal nen Reset zu machen. Nicht gleich wieder hochzufahren. Wie gesagt: Ruhezone. Ich komme da gut mit klar. Ich genüge mir. Kontaktverbote – was haben sich die Leute aufgeregt! Es gibt ja die, die sich ständig irgendwie produzieren müssen, die die anderen brauchen, dass sie ihnen ständig ihre vermeintliche Einzigartigkeit widerspiegeln. Die kommen ja nicht klar, wenn die für sich sind. Da haben die förmlich Angst vor – so eine Art Ego-Phobie.
Anfang des Jahres – ein Haushalt und maximal eine weitere Person. Da hatte man mal endlich Zeit für sich und null Verpflichtungen mit anderen. So habe ich die ganzen Monate gedacht, war einigermaßen im Reinen mit der Welt und mit mir. Im Reinen wie selten zuvor.
Und seit dem Sommer sind die Kontaktbeschränkungen ja weiter verschärft worden – es ist nun jeglicher Kontakt mit nicht dem eigenen Haushalt zugehörigen Personen untersagt. Auch für mich, als Einpersonenhaushalt ist das voll in Ordnung… oder besser gesagt, es war bis vor kurzem voll in Ordnung!

Was passiert ist? Ich habe mich verliebt! Ja – ich habe mich v e r l i e b t! Das geht auch in fortgeschrittenem Alter noch. Direkt gegenüber ist nämlich jemand Neues eingezogen, wahnsinnig attraktiv! Sie hat ihr Badezimmerfenster zu meiner Seite raus und da bin ich häufiger auf Beobachterposten. Ich glaube auch, dass sie mich schon längst bemerkt hat, wie ich durch meine Jalousie hindurch zu ihr rüberspinxe. Sonst würde sie ihren Aufenthalt im Bad nicht derart zelebrieren, sondern das Licht ausstellen oder die Rolladen runterlassen. Ich bewege mich auch schon mit theatralisch aufgeblasener Brust in meinen eigenen vier Wänden, für den Fall, dass auch sie mich beobachtet. Die Kleiderauswahl am Morgen ist zu einer mittelschweren Herausforderung avanciert!

Was ich sagen will – doch wieder was los in meinem Leben. Und wer weiß, ob sie mir überhaupt in der Art aufgefallen wäre, die Nachbarin, in normalen Zeiten. Man wäre wohl durchbeschleunigt aneinander vorbeigerauscht , ohne sich wirklich ' wahrzunehmen.
Aber eines muss ich jetzt doch sagen, bevor ich wieder auf meinen Beobachterposten gehe, weil ja gleich wieder ‚Badezimmerzeit‘ ist: Es wäre schon schön, wenn man wieder raus könnte, dass man mal wieder in Bewegung kommt, dass man sich mal wieder ausprobieren kann; Zeit, die Glieder zu strecken und Frischluft zu schnuppern. Käme mal wieder Leben in die Bude, man setzt ja doch einiges an Patina an, mit der Zeit.
Ja, ich könnte mir schon vorstellen, wieder hochzufahren. Also jetzt nicht wegen der Nachbarin. Zumindest nicht nur.

Autor Michael Blum




Die Kluft zwischen Aluhutträgern und Anderen

Es war Mitte April, als mich ein guter Bekannter auf der Straße in ein Gespräch über die Corona-Krise verwickelte und endete mit. »Er sei sich noch nie so im Unklaren gewesen wie jetzt«. Ich stimmte ihm zu, denn das konnte ich gut nachvollziehen.
Dann aber sagte er, »Ich verstehe halt nicht, warum sie dafür die Wirtschaftskrise in Kauf nehmen?«
»Wie meinst du das?«, fragte ich ihn, »wen meinst du mit –sie-?«
Worauf er nur mich mitleidig anlächelte und sich verabschiedete.
Am Samstag darauf traf ich auf dem Markt, in der Schlange vor dem Bäckerstand wartend, die Tochter eines Sportkollegen mit ihrem Söhnchen im Kinderwagen. Es dauerte, und so erhielt ich unaufgefordert einen Vortrag über die Pläne und Machenschaften der Impfmafia. Vor allem über die Gier des Herrn Bill Gates. Ob er mit Windows nicht schon genug Geld und Macht erlangt hätte.
Meinen Einwand, dass Bill Gates eine Stiftung gegründet hätte, um weltweit die Gesundheit zu för-dern und die Armut zu verringern, ließ sie nicht gelten und bedauerte mich als Opfer von Großkon-zernen und der Staatsmedien.
»Mit der Tagesschau musst du mir nicht kommen, die Medien sind doch alle gleichgeschaltet!«, oder, »Bezahlt dich die Merkel auch dafür, dass du das verbreitest?«
Als ich am Abend einem Freund davon erzählte, wurde er sehr aufgeregt und stimmte ihr gerade-wegs zu. »Ehe ich mich zwangsimpfen lasse, werde ich eher sterben!«, tönte es aus dem Hörer und legte auf.
Verstört startete ich meinen Laptop und las eigentlich zum ersten Mal seine Postings auf Facebook, und mache mir seitdem ernsthafte Sorgen um seine mentale Gesundheit.
Oder sollte mir, obwohl ich mich für recht gut informiert halte, etwas durchgegangen sein?
Die kommende Nacht im Internet war zu kurz. Anfangs versuchte ich noch die Informationswege der Verschwörungsgläubigen akribisch nachzuvollziehen. Stolperte aber über die sogenannten Aluhut-träger, also Leute die Aluminiumfolien in ihre Hüte kleben, damit nicht ihre Gedanken ausgelesen werden. Andere halten die Kondensstreifen der Flugzeuge von Regierungen versprühte Beruhi-gungsmittel. Wieder Andere glauben, die Menschheit wäre von machthungrigen Reptilien unterwan-dert.
Gegen drei Morgens gab ich frustriert auf. Denn dieses sich gegenseitig zitieren sorgt für eine erdrü-ckende Flut von Argumenten, die in der Regel aber nur auf unbegründete Hypothesen oder Annah-men beruhen.
Einige dieser Gedankengänge sind im Ansatz nicht falsch. Drogenkartelle etwa könnten keine Geschäfte machen, gäbe es nicht bis weit in unsere, vermeintlich ehrbare Gesellschaft hinein Menschen, die deren kriminelles Tun decken. Denn das schmutzige Geld gelangt nicht von selbst gewa-schen in den regulären Geldkreislauf.
Es wäre daher naiv, die Existenz von Verschwörungen von vornherein auszuschließen. Und das Hinterfragen von sogenannten Autoritäten und Regierungsplänen halte ich daher für eine demokrati-sche Pflicht.
Trotzdem scheint sich das Land in Vernünftige und die besagten Aluhutträger zu spalten. Aber ist es so einfach?
Ich muss wieder an meinen Freund denken, der selten etwas hinterfragt sondern vertraut. Wenn ich etwas dagegen sage, biete ich nur die Bühne für die Selbstinszenierung meines Gegenübers. Will ich das nicht mitmachen, bleibt mir nur der Kontaktabbruch.
Doch wenn sich das Hinterfragen selbst nicht mehr hinterfragt und Annahmen über dunkle Machen-schaften als Wahrheiten gesetzt werden, verwandelt sich Spekulation in Glauben. Denn diese Men-schen stellen in der Regel keine widerlegbaren Theorien auf, sondern kultivieren Glaubensinhalte.
Ich fühle mich ohnmächtig, weil zum Beispiel eins seiner Argumente: »Es ist eine Tatsache, dass während des Lockdowns kaum 5G-Masten installiert wurden«, nicht nur auf Gerüchten basiert, und sich daher nur mühsam widerlegen lässt.
Zudem bleibt eine Restunsicherheit. Auch wenn Logik, Beweisbarkeit und wissenschaftliche Stan-dards die vernünftigsten und sinnvollsten Instrumente zur Wissenssicherung sind – es bleibt ein Ab-grund aus Nichtwissen. Es ist eine Tatsache, dass das daraus entstehende Misstrauen wächst, wenn man es kultiviert.
Man könnte den Verschwörungsgläubigen in gewisser Weise sogar dankbar sein. Ihre Thesen for-dern dazu auf, die eigenen Überzeugungen zu überdenken und zu begründen oder einfach beschei-dener zu formulieren.

Autor Dieter Drechsler




Virusmonate in der Stadt

Ich gehe durch die Stadt, die Straßen sind fast menschenleer, draußen weht klischeehafter Frühling, der trotz der Pandemie ein Gedicht schreiben möchte, ein blaues Band, einen Blumenduft. Die Menschen sind wie Zeitbomben, sie tragen Mundschutz und weichen zurück, wechseln die Straßenseite, als wäre jeder ein potentieller Feind, ein Infizierter, eine spürbare Nemesis auf dem Asphalt.
Ich gehe zum Bäcker, vor dem Laden lobt eine Frau meine Schuhe, wir werfen uns vorsichtige Worte zu, mit genügend Abstand, ein Augenlächeln, einen Moment. Danach stehe ich vor dem Bioladen und warte, bis ich eintreten darf, nur zwei Menschen dürfen gleichzeitig einkaufen. Ich ziehe die große Kapuze über den Kopf. Vor einigen Monaten hatte ich mir diesen post-apokalyptischen Mantel mit dem asymmetrischen Schnitt gekauft. Nun hat er seine Berechtigung, ich laufe durch diese Kulisse, die ich sonst aus dystopischen Romanen kannte. Nun habe ich die passende Kleidung dafür. Im Laden spreche ich durch eine Wand aus Plexiglas und kaufe Zimtschnecken, in Erinnerung an meine Uroma, dir ihr Rezept vor langen Jahren mit in das Grab nahm, mir wird kurzzeitig warm ob der Erinnerung und ich vergesse das Szenario vor der Tür.
Als ich hinausgehe, reden zwei alte Damen über Klopapier, anscheinend wollen sie sich versichern, mit sauberen Hintern in den Weltuntergang zu blicken. Ich denke genau diesen Gedanken und fühle mich komplett absurd. Das normale Leben, die Tagesabläufe, alles kommt mir vor, wie aus einer anderen Welt. Gefühlte Lichtjahre entfernt. Nicht mal ein Monat ist vergangen und schon erscheint die Zeit ewig, die geschlossenen Läden sind einsame Gebäude im Frühling, der alle mit seinem blauen Band verarscht.
Ich schnüre den Mantel neu und mache mich auf den Heimweg. Ein Mann mit einem großen Hund kommt mir entgegen, wir sind uns gestern schon begegnet, er fragt mich, ob ich bei der nächsten Begegnung einen ausgebe, ich lächle und bejahe, in einem anderen Leben hätte ich nichts gesagt, jetzt wertet man jedes Lächeln, jede Geste, jede Gelegenheit für ein Bier als ein gutes Zeichen, eine Zeitverkürzung, eine Erleichterung abseits der heimischen, unangenehm knarzenden Skype- Fenster.
 Ich wollte eine weitere post-apokalyptische Geschichte verfassen. Hier ist sie, ich musste mir diesmal nichts ausdenken, die Realität hat sie ganz alleine ausgeschmückt, hoffentlich trug sie dabei einen Mundschutz.

Gastautorin Victoria Pavot /Essen





Hauruck – oder: Das Leben ist schon in Ordnung, irgendwie…

heute schon in druck
gegeben und dann genommen
auch den rest von mir
zu dir in die enge
getrieben mir steht es
bis zum halse ich mir doch alles
selber auf kommando
eins-zwei-drei-hauruck

es geht mir eigentlich
gut da ist noch viel luft
nach oben will ja
jeder trägt sein
kreuz unglücklich
bis zum halse ich mir doch alles
selber auf kommando
eins-zwei-drei-hauruck

glücklich ist wer
vergisst man manchmal sich
selbst in der hand
dein Schicksal nicht
ausgesucht auch blinde
finden mal kein grund
zur Klage oder
halse ich mir doch alles
selber auf kommando
hauruck
ein gedicht ist das nicht

Autor Michael Blum





Die Maske

Der Verkäufer in dem Kostümverleih, indem sich sonst zur fünften Jahreszeit die Kunden drängen, schielt seufzend, zwischen bunt maskierten Schaufensterpuppen hindurch, immer wieder nach draußen.
Die sonst so beliebte Einkaufstraße ist nahezu verwaist und die wenigen verbliebenen Passanten shoppen nicht, sondern hasten zu ihren Arbeitsplätzen und weichen einander aus. Verblüfft sieht er, dass dennoch eine Frau auf sein Geschäft zusteuert.
Eilig begibt er sich auf seinen Platz hinter dem Verkaufstresen, zupft seinen Anzug zurecht und wartet ab.
Wenig später steht die Kundin vor ihm, entnimmt einer Kunststofftüte ein undeutliches Etwas, das an ein zerknülltes feuchtes Fensterleder erinnert, und legt es wortlos auf die Theke.
Der Verkäufer erkennt es sofort.
»Guten Tag, gnädige Frau«, begrüßt er dennoch die Kundin steif. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Sie zeigt auf das formlose Etwas. »Es geht um diese Maske.«
Der Verkäufer zieht sich bereitliegende Silikonhandschuhe über und hebt vorsichtig die vor ihm liegende Maske hoch und breitet sie aus. Das verzerrte Gesicht eines Startrack-Stars wird erkennbar.
»Das ist unsere bionische Second-Live Maske, Ausführung Picard«, stellt er sachlich fest und wendet sie ratlos hin und her. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Die Kundin macht eine relativierende Handbewegung. »So werden Sie auch nichts finden, den diese Maske ist ja eigentlich in Ordnung.«
»Eigentlich?«, fragt der Verkäufer irritiert und legt die Maske wieder ab und sieht die Kundin erwartungsvoll an, die nur ein, »Nun ja«, hervorbringt.
»Also ein Umtausch unsere Second-Live Masken ist ausgeschlossen. Es sind schließlich lebende Hautmasken, die gentechnisch individuell auf den Träger optimiert werden.«
»Das weiß ich doch!«, antwortet die Kundin. »Es war auch nicht so einfach gewesen, unbemerkt eine Speichelprobe meines Mannes zu besorgen. Er hat ja am 11.11. Geburtstag und es sollte ja eine Überraschung sein. Letztlich habe ich es aber doch hingekriegt!«, fügt sie stolz lächelnd hinzu.
 »Was ist es dann?«, fragt der Verkäufer, »gibt es ein Problem mit dem bionisch einprogrammierten Charakter des Captain Picard? Überträgt er sich etwa nicht auf den Träger, also ihrem Mann?«
»Das hätten sie mal sehen sollen«, strahlt die Kundin sich erinnernd, »Wissen Sie, mein Mann hat auch schon lang nicht ein Haar mehr auf seinem Kopf. Und als er die Maske aufsetzte, - war es wie Magie, - als stünde plötzlich leibhaftig Captain Picard vor mir.«
»Das höre ich gerne, ein wahrer Tracki - Fan«, freut sich der Verkäufer geduldig.
»Nun ja, mein Mann rennt seit dem nur noch in diesem roten Pullover mit diesem Abzeichen rum, aber dafür er ist er viel ruhiger, beinahe weise geworden.«
»Vieleicht sollte er die Maske nicht so oft tragen«, gibt der Verkäufer zu bedenken.
Die Kundin wiegt abschätzend ihren Kopf. »So schlecht ist das nicht. Seit dem ordert er mit viel mehr Gelassenheit die Waren für unser Online-Geschäft und wir haben deutlich weniger Ladenhüter. Vor allem die neu im Angebot aufgenommenen französischen Weine sind ein echter Renner.«
»Ach«, meint der Verkäufer melancholisch, weil er an seine eigenen Umsätze denken muss.
»Nun ja, wenn er nicht dauernd diesen schrecklichen Earl Grey Tee trinken würde. Ich kann den Geruch kaum noch ertragen.«
Der Verkäufer zieht hilflos die Schultern hoch. »Man kann nicht alles haben. Aber bitte, was beanstanden Sie denn wirklich?«
Die Kundin holt tief Luft, ehe sie antwortet. »Ihnen ist es wohl entgangen, dass Captain Picard nie verheiratet war«.

Autor Dieter Drechsler





Bilanz

 Für dieses Jahr hatte er die letzte Seite geschrieben und klappte sein Tagebuch zu. Seit nun schon dreizehn Jahren war dies sein Neujahrsritual. Vor wenigen Monaten war er siebzig geworden und fühlte sich durchaus noch fit – gleichwohl wusste er nicht so recht zu sagen, wie es ihm eigentlich ginge. War er ein glücklicher Mensch? Und wie fühlte sich das an – ‚Glück‘?
 Er erinnerte sich noch genau an sein Ausgangsmotiv fürs Tagebuchschreiben. Er hatte seinerzeit festgestellt, dass die Tage einfach so und unaufhaltsam an ihm vorbeizogen und so gut wie nichts irgendwie Greifbares hinterließen. Natürlich konnte er den Lauf der Zeit nicht stoppen – das kann niemand! Er hatte aber zumindest das Gefühl haben wollen, dass die Zeit ihm nicht einfach nur davonraste. Er hatte das Bedürfnis, etwas von sich, von seinem Leben, festzuhalten. Natürlich hinterlässt jedermann irgendwelche Spuren – auch Spuren bei anderen Menschen, denen man dann - zumindest für eine gewisse Zeit – in Erinnerung bleibt. Aber das spürte er ja nicht in seiner Gegenwart – und genau darum ging es ihm ja, in der Zeit zu sein und nicht lediglich als eine Form von entstofflichtem Nachruf zu existieren.
 Und seitdem machte er für jeden Tag, meist in den Abendstunden, zumindest einen kurzen Eintrag, der den verflossenen Tag und seine aktuelle Befindlichkeit beschrieb. Zumeist war es aber für jeden Tag eine komplette Seite und auch mehr. Und mittlerweile waren es dreizehn vollbeschriebene, schwarze DinA4-Kladden geworden.
 Er hatte für jeden Tag, manchmal direkt benannt, manchmal nur leicht angedeutet, festgehalten, ob es ein guter Tag für ihn gewesen war oder eher nicht. Da war sie wieder – die Sache mit dem ‚Glück‘. Vor Jahren einmal hatte er bei einem italienischen Psychiater gelesen, dass der Mensch zum guten Leben einen zumindest leichten Überschuss an Euphorie bräuchte, um Zustände von Dysphorie in Schach zu halten. Man stelle sich also zwei absolute, gegenüberliegende Pole auf einer Achse vor, nenne den einen Pol die ‚totale Euphorie‘, den anderen endsprechend die ‚totale Dysphorie‘ – dann sei es wichtig, dass das Erleben mehr in Richtung des Euphorie-Pols zeige, um jeden Tag aufs Neue ein Motiv zum Leben zu haben.
 Und wie war das bei ihm? Und was bedeutete das für seine ziemlich geschrumpfte, sehr überschaubare Zukunft? Auch wusste er, dass die aktuelle Stimmungslage natürlich Einfluss nahm, wenn es darum ging im Rahmen einer Lebensrückschau zu beurteilen, ob man eher ein glücklicher oder unglücklicher Mensch gewesen sei. Man kann nicht raus aus seiner gegenwärtigen Haut… Es gibt da kein objektives Urteil; man konnte nicht gleichzeitig Akteur und Bilanzierer seines Lebens sein; der sich selbst Beurteilende beeinflusst das Urteil aus seiner gegenwärtigen Stimmung heraus. Ihm fiel der in Wien geborene, französische Philosoph Jean Améry ein; Améry hatte sein Leben bilanziert und seine Bilanz in den beiden Werken ‚Über das Altern‘ und ‚Hand an sich legen‘ der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Ergebnis seiner Überlegungen war, dass es sich nicht lohne, über das sechzigste Lebensjahr hinaus weiter leben zu wollen; er selbst hatte es dann noch weitere sechs Jahre geschafft, bis er sich mit sechsundsechzig Jahren eigenhändig vom Leben verabschiedete.
 Und er selbst hatte es bislang um ziemlich genau vier Jahre weiter gebracht als Améry; aber vielleicht war er dieser im reinsten Wortsinn existenziellen Frage bislang einfach nur ausgewichen…und es ermangelte ihm an Konsequenz.
 Da kam ihm eine Idee: Er könnte seine dreizehn Kladden nutzen, jeden Tag aus dieser Zeit noch einmal überfliegen, überprüfen, ob die guten oder die schlechten Tage überwogen hätten - Daumen hoch, Daumen runter, neutral; ja – dann hätte er eine Idee, ob er in den letzten Jahren eher glücklich oder eher unglücklich gewesen war – er müsste kein Pauschalurteil aus der Stimmung des heutigen Tages heraus fällen, wäre also bis zum heutigen Tag nicht ein ‚gefühlt‘ glücklicher oder unglücklicher Mensch gewesen. Er würde also eine Liste anfertigen und hätte schlussendlich die Summe seiner täglichen Stimmungen aus den letzten dreizehn Jahren zur Verfügung; er könnte also mit einer einigermaßen sauberen Datenbasis arbeiten; und diese datenbasierte Bilanz ließe dann sicher auch eine verlässliche Prognose für seine verbleibende Lebenszeit zu… *
 Er hatte Angst – Angst vor dem Ergebnis seines Vorhabens. Tatsächlich waren in den letzten Jahren miese Dinge passiert und die Überzeugung war in ihm gereift, dass langsam aber sicher alles seiner Kontrolle entglitte. Seinem Kopf war schon klar, dass sich das Leben nicht kontrollieren ließ, aber es hatte Ereignisse gegeben, die ihn in seinen Grundfesten erschüttert hatten; sein Körper hatte langsam begonnen, ihm die Gefolgschaft aufzukündigen; da entlastete ihn auch nicht die Bemerkung seines Hausarztes, dass er ‚für sein Alter‘ noch relativ fit sei… die Gesundheit ist also nicht objektiv, sondern lediglich relativ in Ordnung; welch ein zynischer Trost! Dass hieße dann ja wohl, dass es ‚altersentsprechend‘ weiter abwärts gehen würde. Wenn er noch an einem Stammtisch teilnehmen würde, so wäre er bald der einzig Verbliebene, könnte nur noch sich selbst und dem Wirt zuprosten; sein soziales Leben war auf einem Tiefpunkt angelangt. Der ganz normale Alltag hatte begonnen lästig zu werden – eine nicht enden wollende Abfolge des Immergleichen. Ganzjähriges Novemberwetter. Bei der Durchsicht seiner Kladden würde er wahrscheinlich feststellen, dass im Laufe der Jahre die guten Tage weniger geworden und die sogenannten ‚Einschläge‘ den Sicherheitsabstand schon längst unterschritten hatten. Wozu jetzt also noch unnötig Zeit darauf verwenden, das Vermutete zur tatsächlichen Gewissheit werden zu lassen. Die Sinnfrage stellte sich nicht mehr. Wann in seinem Leben hatte er die falsche Abbiegung genommen? Und mit einem fast leeren Tag lässt sich schlecht Umkehren. Der Pegel hatte sich schon eine zu lange Zeit und mit zu großer Intensität in Richtung des ‚Dysphorie-Poles‘ geneigt. Die geringe Halbwertzeit des Glücks war nichts anderes als eine Kapitulation vor dem Unglück.
Nach diesen Überlegungen war es ihm mit einem Mal ein Rätsel geworden, warum er dreizehn Jahre zurückschauen sollte, warum er seine glücklichen, seine unglücklichen oder auch seine neutralen Tage zählen sollte… allein wieviel Zeit das in Anspruch nehmen würde; es würde nichts verändern; der letzte Akt hatte begonnen, ein Endspiel, bei dem es keinen Sieger geben konnte. Seine Tagebücher waren die Dokumentation seines dreizehnjährigen Endspiels. Er hatte nicht in dem Gefühl, die Welt umarmen zu können, mit den Tagebüchern begonnen; er hatte sie begonnen aus einer Krise heraus.
 Die aus dem Studium seiner Tagebücher heraus erfolgende – davon ging er fest aus – Negativbilanz wäre ihm eine willkommene Rechtfertigung dafür, sein Aufgeben in stiller Demut annehmen und alle weiteren Versuche, doch noch etwas zu ändern, einstellen zu dürfen. Um dann am Ende immerhin sagen zu können: „Ich habe es vier Jahre länger ausgehalten als Jean Améry.“ Das war ihm klar geworden: Er hatte es in seiner Hand…
*(alternative Fortsetzung)
 Und dann? Was wäre denn, wenn er den Großteil seiner Zeit unglücklich gewesen wäre? Und vielleicht waren die Unglücksanlässe nur kurzzeitig von Relevanz gewesen und mittlerweile ohne Bedeutung? Denn Vergangenes war schließlich vorbei! Und was würde es bedeuten, wenn das Verhältnis von Euphorie und Dysphorie ausgeglichen wäre; gäbe es bei einem Unentschieden eine Verlängerung, ein Elfmeterschießen oder doch den pünktlichen Abpfiff? Und wenn er überwiegend glücklich gewesen wäre, wäre das dann nicht auch in seinem Bewusstsein fest verankert und er wäre gar nicht auf die Idee gekommen, die Frage nach dem Glück zu stellen – ist doch die Suche nach dem Glück der Antrieb des Unglücklichen? Oder gehörte die Lebensbilanz zu einem Älterwerden mit Bewusstheit einfach dazu? Und hätte die Datenbasis von dreizehn Jahren in Relation zu den siebzig gelebten überhaupt eine ausreichende Relevanz? Und selbst wenn es dreizehn miese Jahre in seinem Leben gegeben haben sollte, so gab es sie doch, zwischendurch, die guten Tage; und selbst wenn die guten Tage in der Summe nicht an die schlechten heranreichten – hatten sie nicht ein anderes Gewicht? In etwa wie es schon bei nur einem guten und sechs schlechten Tagen, es trotz allem zu einer positiven Wochenbilanz kommen kann, weil der eine gute Tag einfach viel mehr wiegt? Das hieße dann ja, dass das Glück nicht objektiv sondern vielmehr relativ ist; das hieße dann, dass es sich auch für die kurzen guten Momente und die kleinen Augenblicke lohnen würde. Das hieße aber auch, sofern sich der Pegel zu lange und zu intensiv in Richtung des ‚Dysphorie-Poles‘ neigte, man blind zu werden drohte für das kleine Glück zwischendurch. Das hieße dann auch, dass man wach bleiben müsse und offenen Blickes durch die Welt zu wandeln habe – Augen auf für das Glück – gewissermaßen. Wach und neugierig müsse man sein – nur wer hinschaut kann schließlich auch etwas entdecken; das kleine Glück will gefunden werden…
 Nach diesen Überlegungen war es ihm mit einem Mal ein Rätsel geworden, warum er dreizehn Jahre zurückschauen sollte, warum er seine glücklichen, seine unglücklichen oder auch seine neutralen Tage zählen sollte… allein wieviel Zeit das in Anspruch nehmen würde; und könnte er mit dieser Zeit nicht Besseres anfangen? Einen Anfang machen?
 Oder hatte er mit der Bilanz eine Entschuldigung vor sich selbst gesucht, einen Beweis dafür, dass im Falle einer Negativbilanz das Leben nicht mehr lohne und alle weiteren Versuche etwas zu ändern ohne Zweck seien? Um dann am Ende immerhin sagen zu können: „Ich habe es vier Jahre länger ausgehalten als Jean Améry.“
 Das war ihm klar geworden: Er hatte es in seiner Hand…

Autor Michael Blum





Das zeitlose Geschenk

Ein Mensch betrachtet ein Geschenk,
das ihm zur Weihnacht ein Anderer hat gegönnt.
Sieht, wie ein Zeiger sekündlich weiterrückt,
- ist nachdenklich, - nicht beglückt.

Denn was zeigt ihm diese Uhr?

Nicht die Vergangenheit, die ist bereits vergangen,
und die Zukunft, die ist noch nicht entstanden.
Das Jetzt hat also keine Dimension,

- die angezeigte Zeit,
ist daher eine Illusion.

Autor Dieter Drechsler





Süße Verführung

Da saß er nun und hatte das gigantische Tortenstück allein verzehrt – wohl war ihm ein wenig übel von der vielen Buttercreme.
Gern hätte er die süße Verführung geteilt – nur mit wem? Da war ja niemand. Und wenn da niemand ist, dann ist’s ein wenig öde.
Bei all den Glücklichen drumherum das eigene Unglück furchtbar präsent.
Es hätte noch nicht einmal einer zweiten Gabel bedurft, es hätte eine gereicht.
Und Süßes teilen – das verbindet schließlich, ist doppelter Genuss!
Ist das die Einöde? Wenn man nicht teilen kann?
Und ist die Einöde etwa noch schlimmer als die Zweiöde?
Aber wenn man sich anödet zu zweit, dann nutzt man doch eh keine gemeinsame Gabel!
Sich nicht in die Augen geblickt, nur abgebrochene Sätze gesprochen oder geschwiegen und dazu noch düster geschaut, in der Zweiöde.
Um Himmels Willen! Nein!
Teilen im Zustande der Zweiödigkeit schmälert nämlich den Genuss ganz gewaltig – und das kann ja wohl nicht die Lösung sein. Dann doch lieber allein als zu zwein.
Gut hat’s nämlich geschmeckt.

Autor Michael Blum





Gesellschaft

_________________________________
ohne partner fühlt man sich gleich
so ausgeschlossen, so anders. als
versager -nicht direkt- aber man
hat ja eben doch nicht der
gesellschaft gleiches getan. wen
interessiert schon die gesellschaft?
was ist das überhaupt?
________________________________
hab’ lang darauf gewartet,
abstraktes klar definieren zu
können… ich lache laut, mein
körper krümmt sich, während mein
hirn purzelbäume schlägt, meine
zunge sich in das nichts verwurzelt
und mein herz tot zu sein scheint,
obwohl es schlägt. kann mir einer
sagen, wie viel uhr wir haben?
_________________________________

Autorin Elena Ratzlaff





Nur im Märchen?

„Jedes Mal, wenn du zu einem Kranken kommst, werde ich auch da sein“, sagte der Tod eindringlich zu dem jungen Burschen, der so ein berühmter Arzt geworden war. „Wenn ich am Fußende des Bettes sitze, so kannst du den Kranken heilen, sitze ich aber am Kopfende, so gehört er mir, und nichts und niemand wird daran etwas ändern!“ Im Saal des Seniorenhauses sitzen etwa 20 Gäste und hören mir gebannt zu. Der junge Mann wird im Laufe der Geschichte gegen die Regeln, die der Tod aufgestellt hat, verstoßen. Am Ende wird der Tod ihn holen, denn – so der letzte Satz des Märchens: „Der Tod ist ein gerechter Mann und hält sie alle gleich.“
Ein letzter Applaus, ein Blumenstrauß und ich mache mich daran, eine kleine Dekoration, die ich zu Beginn meines Besuches in diesem Haus aufgebaut habe, wieder in die Körbe zu räumen. Da kommt ein älterer Herr auf mich zu. Er geht am Stock. Ich kenne sein Gesicht gut, er war seit Jahren bei jeder Veranstaltung im Publikum, der Stock ist in diesem Jahr neu, aber ich weiß ja, dass er über 80 Jahre ist. „
Das war die beste Geschichte, die Sie bisher erzählt haben, mit diesem Tod kann man sich anfreunden. Und es stimmt ja auch, manchmal kann man was machen, aber manchmal auch nicht, und dann ist es eben gut.“
Ich lächele, bedanke mich für sein Kompliment und wünsche alles Gute bis zum nächsten Mal.
Als ich auf dem Heimweg bin, im Auto sitze, da fällt mir die Wortwahl des Mannes wieder ein: anfreunden, gut … es geht um die Unausweichlichkeit des Sterbens - ist das gut, kann man sich damit anfreunden?
Die Märchen kennen viele positiv besetzte Gestalten des Todes, aber diese Geschichten sind alt. Der Tod ist in unserer so lebendigen und erfolgreichen Welt zum Tabu geworden, er ist kein Freund mehr. Aber wenn man 80 Jahre alt ist, kann sich das dann ändern? Ist er dann der gute Geselle, der - ganz gleich wie reich oder arm du bist, ganz gleich wo du gerade im Leben stehst - kommt, und dich dahin bringt, wo nichts mehr weh tut, wo keine Anforderungen mehr auf dich warten, wo der Trubel und die Selbstbehauptung, Entertainment und Langeweile, Politik, Krankheit und Kampf ein Ende haben?
„Dann ist es eben gut.“
Der Tod ist schon so alt, wie soll sich dieser Freund zwischen Apparaten, Kabeln und Schläuchen zu recht finden, wie soll er da seine Qualitäten einsetzen? Ich stehe auf dem Standpunkt, dass ich meine Freunde zu mir nach Hause einlade, und dort trinken wir ein schönes Glas Wein und dann soll es auch gerne gut sein!

Autor Maggy Ziegler





Zwillings-Gedichte

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ich sitz’ in meinen alten räumen,
scheue mich mittlerweile dennoch
v o r  t r ä u m e n  u n d  d e r e n
nichterfüllung, denn was kommt
s c h o n  s o , w i e  w i r  e s  u n s
wünschen? bin zu jung und zu alt
für enttäuschungen. die hingabe
an langsame veränderung ist
alles, was mir bleibt. aber nichts ist
und bleibt für immer - positive
zukunft will zeit und nerven in
anspruch nehmen.
_________________________________
_________________________________
ich hasse die ungewissheit, wie sie
mir ins gesicht ächzt. sie kennt sich
selbst nicht, will mir meine zukunft
vorgeben. und das schlimmste
daran ist, dass dieses nicht
vorhandene wissen, dieses
durstige  b i e s t , mir meinen
verdammten verstand raubt. denn
wenn ich mich ihr hingebe,
vergesse ich meine wünsche und
ängste. ich habe doch nur ein
Ich…
_________________________________

Autorin Elena Ratzlaff





Dezember

ich ÖFFNE die Türe
alle laute
klingen gedämpft

kamine und dächer
tragen WEISSE hauben

in der siegniederung
lugen aus den feldern
WINTERsaatspitzen
wie ein dreitagebart

baumwollfrüchten gleich
die SCHNEEwattebällchen
in den sträuchergabeln

wintervögel
ZEICHnEN
trippelspurenbögen

ein sonnenstrahl lässt
trillionen schneekristalle
aufblitzen

erhellt AUCH mich

Autor Hedwig Bäte





Der Säugling

…liegt im Himmelbett
und denkt:
Mein Gott sind hier die Leute nett!

Sie grinsen freundlich, leicht verklärt,
der Service ist auch nicht verkehrt.

Doch wäre da was zu bemängeln
starte ich verschärftes Quengeln.
Man eilt herbei –so meine Masche -
verlegen dann mit jener Flasche,
die temperiert, mit Milch gefüllt,
prompt in Zufriedenheit mich hüllt.

Ganz gern wird Busen offeriert.
Zu Anfang war ich irritiert,
vielleicht, weil ich noch Debütant,
das Angebot noch unbekannt.

Natürlich ist mir längst bekannt
wie endlich dies Schlaraffenland!

Gastautor Christa Schmidt





Von Corona lernen

»Ich hoffe, dass sich mit Corona einiges verändert und die Menschen daraus lernen«.
Diesen Satz habe ich in den letzten Tage häufiger gehört und kann diesen Wunsch, diese Hoffnung gut nachvollziehen.
Allerdings ist dieser Wunsch und diese Hoffnung unkonkret.
- Denn wer sind »die Menschen«, und was sollen »die Menschen« lernen?
- Und dann nur die anderen?

Also stelle ich mir die Frage, was mich Corona lehrt.

An der Erkenntnis der Verletzlichkeit des menschlichen Daseins ändert sich nichts. Im Gegenteil sie wird uns Tag für Tag vor Augen geführt.
Wie ebenso der streifenfreie tiefblaue Himmel nicht zu übersehen ist. Dass kein Triebwerksdröhnen mehr das Zwitschern der Vögel überlagert, und dass von der nahen Autobahn auch nur noch wenig zu hören ist.
Ich genieße diese neue Stille, denn die Verbundenheit mit der Natur und die Bewahrung der Schöpfung hat man mir wohl in die Wiege gelegt.
Aber wie kann ich dazu beitragen, dass das nach Corona so bleibt?
Und ist es wirklich erstrebenswert, dass Fußgängerzonen und Kaufhäuser verwaisen, Hoteliers reihenweise Insolvenz anmelden?

Vielleicht würde es helfen, wenn ich nicht mehr in den Urlaub fliege, sondern das Auto benutze. Allerdings bin ich mir jetzt schon relativ sicher, dass diese Energie-Bilanz nicht viel besser ausfallen wird, als die bisherige.
Bei diesen Überlegungen wird mir bewusst, dass ich den Klimawandel und die Pandemie als Einheit betrachte. Als eine Art Allianz der Natur gegen den ausbeuterisch agierenden Menschen.
Und zeigt nicht diese Krise explizit, dass grundlegende Veränderungen notwendig sind?

Mein Blick fällt auf den Stapel Reisekataloge, aus denen Fähnchen herausragen, die meine Urlaubswünsche markieren. Meine ganz persönlichen Traumziele, für die, um sie zu erreichen, Unmengen CO2 in die Luft geblasen werden müssten. Abgesehen davon, dass die Enge in dem Flieger spätestens nach einer halben Stunde einen weiteren Corona-Hotspot kreieren würde.
Betroffen nehme ich den Stapel, und mit ein wenig Wehmut landet er in dem halbgefüllten Altpa-pierbehälter, aus der mich andere bunte Prospekte anstrahlen.
Mein mir ungewollt zugesandter Anteil an den 15 Millionen Tonnen Altpapier, die jedes Jahr allein in Deutschland anfallen. Das hochglanzbedruckte Synonym dafür, dass es ein systemisches Umdenken geben muss. Dass man, obwohl es einem wohlhonorierte Marketingstrategen einzureden versuchen, nicht die wichtigste Person auf der Weltbühne ist.
Ausgerechnet die Corona-Einschränkungen machen es mir jetzt leicht. Ich sitze nun häufiger auf dem Rad, erkunde die zu meiner Überraschung vielseitige Landschaft vor der Haustüre und plane Einkäufe, um unnötige Autokilometer zu vermeiden.
Kritiker werden sagen, »Das ist doch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.«
Sie haben völlig Recht, aber selbst der mächtigste Strom auf unserer Erde beginnt mit einem ersten Tropfen …

Autor Dieter Drechsler





Vom Umgang mit schwierigen Zeiten

Es war einmal…. so fangen die Geschichten häufig an, die ich seit Kindertagen kenne und seit 2007 auch öffentlich erzähle. In diesen 13 Jahren habe ich mir einen Märchenschatz von über 150 Märchen aus aller Herren Länder erarbeitet.
Oft fragen meine Zuhörer nach der Herkunft und nach dem Sinn der alten Märchen und ich erkläre dann gerne, dass Märchen eben genau nicht entstanden sind, um kleine Kinder zu gruseln oder zu entertainen!
Märchen sind Lebenshilfe, entstanden in einer Zeit, in der ein sehr konkreter Gefahrenkatalog für die Menschen existierte, ohne die medialen Möglichkeiten der heutigen Zeit. Es ging darum, Lebensstrategien weiter zu geben, in der Familie, in der Sippe, im Freundeskreis.
Die Märchen haben überlebt, die Gefahren auch, was ist dann mit den Strategien, die diese uralten Geschichten uns bieten?
Ich möchte zuerst ein sehr durchgängiges Motiv erwähnen, dass uns in vielen Märchen begegnet: Der Held, die Heldin, die Helden schaffen die Problemlösung sehr oft erst im dritten Anlauf! Man muss durchhalten, es immer wieder versuchen, nicht aufgeben, neue Hilfsmittel suchen…
Als Erzählerin bin ich oft geneigt, mein Publikum nicht damit zu „langweilen“, dass drei - oft nur ein klein wenig unterschiedliche – Anläufe nötig sind, um z.B. das Wasser des Lebens zu besorgen. Eigentlich sollte ich da konsequenter sein, denn ich verschleiere durch die Abkürzung des Textes beim zweiten oder dritten Mal die Tatsache, dass uns das Märchen Geduld lehren will. Es zeigt uns deutlich, dass das Elend und die Schwierigkeit eben nicht mit heavy action und Hauruck mal eben in Ordnung zu bringen sind, sondern nur mit Beharrlichkeit und immer neuem Angang.
Wie heißt der gerne zitierte Witz: Geduld? Als die verteilt wurde, saß ich fluchend im Auto und wartete auf das Ende des Staus!
Geduld ist wahrlich nichts, was in unserer heutigen Zeit die Massen so richtig begeistern kann! Geduld ist zielführend, in den Märchen schon, sollten wir es auch heute mal damit versuchen? Würden wir es überhaupt versuchen können?

Einen zweiten Aspekt möchte ich noch dazu legen, der in vielen Märchen beschrieben wird: Problemlösung erfordert eine bestimmte innere Haltung bei den Helden. Sehr gerne werden drei Brüder beschrieben, wobei zwei davon mit klaren Vorstellungen, mit vorgefertigten Meinungen oder gedankenloser Sturheit ans Werk gehen. Der dritte legt eine gewisse Unbedarftheit an den Tag, die aber dazu führt, dass er viel genauer hinschaut, was tatsächlich Sache ist. Eben ohne vorgefertigtes Programm. Er reagiert flexibel auf die Dinge, die da auf ihn zukommen. Er steht zu seinen Ängsten, ist bereit Hilfe anzunehmen, und kann auch manchmal eine völlig „unangemessene“ gute Laune verbreiten. Die Panikmache, die seine Brüder in die Blindheit oder Aggression führen, die ist ihm fremd, er riskiert heitere Gelassenheit und tut eben das, was gerade „dran“ ist.
Beides: Die heitere Gelassenheit (gepaart mit Achtsamkeit und Arbeitswillen) und die Geduld – beides finden wir auch in den Weisheitslehren des Zen oder der christlichen Mystiker, uraltes Wissen, das überlebt hat.
Und einfach diese Tatsache, dass diese Erkenntnisse seit Generationen, seit Jahrtausenden weitergegeben werden, macht sie in meinen Augen zuverlässig und nützlich, ganz gleich ob wir das Wasser des Lebens suchen oder uns mit einem neuen Virus herumschlagen.

Autor Maggy Ziegler





Der Geier

Der Geier, der auf Mäusefang,
hält plötzlich an bei dem Gesang
des kleinen Vogels rechts im Baum.

Er seufzt und denkt, der lebt den Traum,
der mir blieb stets versagt.
Nur fokussiert auf Mäusejagd
und anderes Getier.
So zeigten es die Eltern mir.

Wär gerne Schöngeist in der Luft,
hingegen tut sich auf die Kluft
von Jagen und Gesang.
Und weil ganz tief bei ihm der Drang

schenkt er der kleinen Maus das Leben.
Will singend nur noch vorwärts schweben.

Beim kleinen Vogel rechts im Baum
erhofft er Hilfe für den Traum.

Dem seinerseits wird Angst und Bang:
Was macht der ohne Mäusefang?

Gastautor Christa Schmidt





Der ungehörte Mahner

Ein Mensch, da er Schlimmes ahnte,
früh schon vor Corona warnte,
blieb leider ungehört.

Jetzt schreit die Menge, total empört,
eine Strafe soll er kriegen,
denn er hätte was verschwiegen.

Es kann der Mensch es nicht verstehen,
trifft es ein, was man vorausgesehen.

 

Dieter Drechsler





Das Alter

Das Alter klopft beim Körper an
und fordert forsch: Ich bin jetzt dran!

Der Körper fällt hier aus der Rolle
und fragt das Alter, was das solle?
Er sei ja schließlich voll agil
beim wöchentlichen Tennisspiel!
Im Bahnen schwimmen sei er flink,
versteh‘ am Rechner jeden Link.

Zu Wandern grade zu geboren,
kaum Haare gingen ihm verloren.
 
Auch sexuell sei er intakt,
wenn ihn das Küssen voll gepackt.
 
Das Alter muss sich eingestehen,
so’n Körper lang nicht mehr gesehen!

Gastautor Christa Schmidt





Fernweh

Manchmal frage ich mich, ob ich wirklich lebe. Ob ich das Leben tatsächlich erlebe, oder ob ich einfach nur existiere. Im Hier und Jetzt. So, als wäre es die richtige Zeit zu leben um das Leben zu genießen. So, als sei es vollkommen und richtig, das Leben welches ich führe. Ich nenne es “Ironie des Lebens“, “Ironie des Schicksals“, “Ironie meiner Geschichte“.
Wenn ich so alleine in meinem Zimmer sitze, Musik höre und mich versuche zu erinnern, was mich die letzten Jahre lebendig gemacht hat, spüre ich nichts. Nichts als Sehnsucht. Denn die Lieder die ich höre, sind nicht von heute. Sie sind nicht von gestern, sondern von vor langer, langer Zeit. Zeit, die längst vorüber ist und dennoch an mir zerrt. So, als habe sie mich vermisst. In den 60ern, 70ern, 80ern, und nicht erst ab den 90ern oder jetzt.
Wenn ich mich mit jemandem aus dieser Zeit unterhalte, mir die nostalgischen Geschichten anhöre, wenn ich versuche, Teil von dem zu sein, was andere erlebt haben, wenn auch nur in meinen Vorstellungen und in meiner Sehnsucht, spüre ich mich. Und eigentlich müsste ich schon doppelt so alt sein, als wie ich es jetzt bin. Also 46, vielleicht auch drei Jahre jünger, oder sogar noch älter, aber eigentlich müsste ich schon viel älter sein. Nicht, weil ich unbedingt erwachsen sein möchte, “Erwachsen sein“ ist unterschiedlich definierbar, aber ich sehe mich anders, als ich es tatsächlich bin.
Ich sehe mich, wie ich mit Freunden auf den wildesten Festivals auf The Rolling Stones, Pink Floyd, KISS, Red Hot Chilli Peppers, bis hin zu Radiohead, abrocke und es uns scheißegal ist, was morgen sein wird. Wie gut die Zigaretten schmecken und wie gut der Alkohol seine Wirkung auf uns überträgt. Wie wir nassgeschwitzt aus dem Club kommen und lachen, weil wir wieder einmal Spaß haben und uns einfach nichts und niemand aufhalten kann.
Ich sehe mich, wie ich mit Freunden Drachen steigen lasse, wie wir Gleitschirm fliegen und danach anstoßen. Darauf, dass wir jeden Flug erleben und überleben und dass wir beisammen sind und dass das alleine schon ein Grund ist, einen Toast auszusprechen. Auf uns, auf unser Leben welches wir führen und darauf, dass wir es tatsächlich erleben. Wir nutzen jede Gelegenheit, wir sind Rebellen, wir gewinnen jeden Kampf und wir sind diejenigen, die alles können und alles mitnehmen. Wir sind diejenigen, die am Wochenende beisammen sitzen, auf ein Neues anstoßen, sich freuen, ein solcher Haufen Chaoten zu sein, welcher trotzdem sein Leben auf die Reihe bekommt. Und auch sehe ich mich, wie ich einfach mal alleine sein kann.
Das alles sind Sehnsüchte, Vorstellungen und Hoffnungen. Darauf, dass mein Leben tatsächlich so sein könnte. Dass ich keine Angst davor habe, alleine zu sein, denn ich bin es nicht. Sehnsüchte, vor allem darauf bezogen, den Begriff “Nostalgie“ irgendwann mit etwas verbinden zu können. Vorstellungen, die nicht surreal, dennoch so schwer umsetzbar scheinen, weil ich sie nicht teilen kann. Nicht, weil ich nicht wollte, aber ich bin halt eben doch alleine.
Hoffnungen, dass Sehnsucht und Vorstellung doch kompatibel mit Zukunft sein können und ich irgendwann, vielleicht nicht morgen, aber bald, glücklich sein kann. Hoffnung, dass ich mich irgendwann, vielleicht nicht morgen, aber bald, anpassen und identifizieren kann mit dem, was mich im “Hier und Jetzt“ so unbedingt braucht.
Wenn ich mir die Lieder der heutigen Zeit anhöre, empfinde ich nichts. Nichts als Fernweh. Und wenn ich mir dabei die Gesichter meiner realen Freunde ansehe, wie sie sich vollkommen mit ihnen identifizieren und dazu zahlreiche Geschichten erzählen können, wird mir klar, dass ich zu dieser Zeit fehl am Platz bin. Denn eigentlich müsste ich schon viel älter sein. Das jedenfalls sagt mir mein Kopf, aber das Leben lässt es nicht zu.
ch bin gefangen in einem Käfig aus moderner Zeit, die sich weiterzuentwickeln scheint und welche mir all meine Hoffnung raubt, denn sie wird immer schneller. Und dies alles was so nostalgisch ist und zu mir gehören sollte, wird immer weiter in die Ferne gerückt. Nur die Sehnsucht bleibt. Sehnsucht, die kaum zu beschreiben ist und welche mich im “Hier und Jetzt“ einfach nicht in Ruhe lässt. So, wie andere in ihrem Körper gefangen sind, in dem sie sich nicht wohlfühlen und aus dem sie raus wollen, weil sie eigentlich jemand ganz anderes sind, so fühle ich mich gefangen in dieser Zeit. Heute. Im “Hier und Jetzt“, welches ich nicht fassen kann, denn es berührt mich einfach nicht.

Elena Ratzlaff





Eine interessante Begegnung

Eigentlich wollte Jonas die Häufigkeit seiner Einkäufe auf das Notwendigste reduzieren, aber ohne Mehl kann man nicht backen.
Ärgerlich greift er nach Portmonee und Schlüssel, zieht sich die Atemmaske über und trabt los. Um seinen Weg abzukürzen, benutzt er die Bahnhofspassage, vorbei an den wenigen Reisenden mit ihrem Gepäck, als ihn plötzlich jemand am Arm festhält.
»Hei! Was machst du denn hier?«
Überrascht bleibt Jonas stehen und blickt in das Gesicht einer Frau, die wie er, wohl auch um so um die vierzig ist. Ein Strohhut ziert ihren Kopf, und passt überhaupt nicht zu den Röhrenjeans und der nietenübersäten Lederjacke. In einer Hand hält sie ein Smartphone, die andere ruht auf einem Rollkoffer, auf dem ein sperriges Malerstativ geschnallt ist.
»Ich werd verrückt!«, ruft die Frau in einer Lautstärke, da sie keinen Mundschutz trägt, dass sich einige Passanten nach den Beiden umdrehen. »Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«
Jonas will gerade etwas antworten und eigentlich weitergehen, als sie den Koffer einfach stehen lässt und ihm um den Hals fällt.
»Mensch! Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehen würde«.
Jonas dreht den Kopf zur Seite und versucht ihrem Mund auszuweichen. Es gelingt ihm aber nur ansatzweise und aus den Augenwinkeln bemerkt er zwei Bundespolizisten, gut drei Meter entfernt, die die Szene kopfschüttelnd mit besorgten Mienen beobachten.
Nach den Küssen, die zu seiner Erleichterung zum Teil auf der Atemmaske landeten, tritt sie einen Schritt zurück, um ihn ungeniert von Kopf bis Fuß zu mustern.
»Ist das nicht irre? Wie viel Jahre sind vergangen? Sechs? Sieben?«
»Weiß nicht … sieben?«, murmelt Jonas völlig verdattert, starrt dabei in ihr wenig dezent geschminktes Gesicht und versucht es irgendwo einzuordnen.
»Na, sieben können es wohl sein!«, überlegt sie laut. »Wahnsinn! Du hast dich überhaupt nicht verändert! Sag mal, bist du immer noch mit dieser Portugiesin zusammen?«
Jonas sieht, wie sich die beiden Bundespolizisten feixend etwas zuflüstern. »Nee«, antwortet er, wie abwesend.
Sie grinst breit und zwischen ihren knallroten Lippen wird eine Reihe schneeweißer Zähne sichtbar. »Die war aber auch kapriziös! Und jetzt? Biste allein? - Endlich allein, was? Haha! - Oder haste etwa inzwischen geheiratet? … Sind ja jetzt alle verheiratet und haben Kinder!«
»Ich bin allein«, antwortet Jonas und fragt sich, warum sie so laut sprechen muss, dass es der halbe Bahnhof mitbekommt.
»Und du?«, fragt er auf den Koffer zeigend. »Wo geht´s denn hin?«
»Nach Hause. Habs gerade noch so mit dem letzten Flixbus nach Köln geschafft. War zu einer Malexkursion mit Professor van den Schroot in der Toskana unterwegs, als das mit Corona losging«. Und nach einer übertriebenen „c‘est la vie“ - Geste. »Wie du siehst, male ich immer noch, wohne noch immer in der Südstadt und habe demnächst eine Ausstellung in Bonn. - Es hat sich nichts geändert«.
»Ach!«, sagt Jonas rhetorisch und sucht in seiner Erinnerung nach einer Malerin.
Sie lässt nicht nach. »Aber was machst du denn hier? Lebst du hier?«
»Äh, - ja“, antwortet er ausweichend, »zur Zeit schon.«
Ihre grünen Augen mustern ihn lächelnd, bis sie plötzlich ernst werden. »Sag mal, weißt du eigentlich, was aus der Ivonne geworden ist? Die hatte sich ja von ihrem Mann getrennt … war ne lange, komplizierte Geschichte. Danach ist sie für ein halbes Jahr nach Kanada, glaub ich. Hab aber nie wieder was von ihr gehört. Weißt du irgendwas?«
»Tut mir leid«, antwortet Jonas. »Ich wusste nicht mal, dass sie sich von ihrem Mann getrennt hat. Eigentlich habe ich auch mit kaum jemandem noch Kontakt, und lebe seit längerem eher zurückgezogen.«
»Stimmt!« lacht die Frau sich erinnernd. »Du warst ja schon immer so«. Dabei mustert sie ihn erneut und wirft dann plötzlich einen Blick auf ihre übertrieben große Armbanduhr. »Oh Shit! Ich muss zur Bahn! Die fährt jetzt nur noch halbstündlich! Hast du noch meine Nummer?«
»Die müsst ich noch haben«, nickt Jonas, »geh nur, ich ruf an!“
»Wirklich?«
»Klar doch« Sie küsst ihn noch einmal links und rechts und streicht ihm lächelnd zum Abschied trotz Maske mit ihren grellrot lackierten Fingernägeln über die Wange. »Ich hab mich so gefreut!«
»Ich mich auch!«, antwortet Jonas immer noch nachdenklich. Als er sich nach wenigen Schritten noch mal nach ihr umdreht, ist sie, trotz der recht leeren Bahnhofshalle, verschwunden und hinterlässt eine merkwürdige Leere.
»Schade. Es wäre interessant gewesen, sie näher kennenzulernen!«

Dieter Drechsler





Leben

Mich fragte einer, der nicht dumm:
Ist's Leben ein Mysterium?

Ich fragte nie nach diesem Sinn,
steh' ich aktiv doch mittendrin!

Gut, das Alpha ist ein Embryo,
das Omega stimmt nicht so froh,
ist's nicht der Tod,
der uns bedroht?
 
Will er uns doch das Leben rauben,
wie selig sind, die daran glauben,
dass himmlisch ihre Zukunft wird,
vorausgesetzt, dass man nicht irrt.

Mysterium ist nicht das Leben,
vielmehr was wird’s danach wohl geben.

Gastautor Christa Schmidt





Der weiße Fleck

Mein Bärchen, heute bringe ich dir dein Frühstück ans Bett. Lauter schöne Sachen. Lachs mit Rührei, Metzgerschinken, Quark, Erdbeermarmelade, Butter, Brot und frisch aufgebrühten Kaffee. Weißt du noch, wir haben es immer unser Hotelfrühstück genannt. Ich lege mich noch für ein halbes Stündchen neben dich. Lass dich dadurch nicht stören. Guten Appetit!
Es war nicht immer leicht mit dir. Vielleicht ging es dir mit mir ja genauso. Ich weiß es nicht. Aber wir haben uns immer wieder irgendwie zusammengerauft. Manche Tasse ist bei unseren Streitereien zu Bruch gegangen. Es war manchmal zum unter die Decke gehen mit dir. Im Rückblick kommt mir mancher Streit als Kinderkram vor und ich kann heute darüber lachen.

Apropos Lachen: Mit deiner humorvollen Art hast du mich immer schnell wieder auf den Boden zurückgeholt. Das war das Schöne an dir, du konntest einem nie lange böse sein. Weißt du noch, als wir die Scherben der letzten beiden Tassen des rustikalen Kaffeeservice gemeinsam zusammengefegt haben, war dein Kommentar dazu: Gott sei Dank, das waren die letzten beiden Exemplare. Beim nächsten Streit nehmen wir die Kochtöpfe, die halten meistens länger, sind aber, was den Lärmpegel betrifft, wesentlich effizienter. Dabei war das Kaffeeservice ein Hochzeitsgeschenk deiner Mutter. Du mochtest es nicht und ich auch nicht.
Ich probiere mal etwas von dem Rührei, bevor es kalt wird.
Unser Leben war weiß Gott nicht immer einfach. Wenn ich an die anderthalb Jahre zurückdenke, in denen du arbeitslos warst, bekomme ich heute noch Bauchschmerzen. Ich weiß, wie sehr du darunter gelitten hast. Du fühltest dich so nutzlos. Aber nicht nur du hast unter dieser Situation gelitten. Auch ich und die Kinder haben gelitten. In Urlaub fahren war passé. Mit meinem Gehalt konnten wir uns nur noch das Nötigste leisten. Zum Glück hatte uns die Bank einen Aufschub für den Hauskredit gewährt. An allen Ecken und Enden fehlte das Geld. Hoch angerechnet habe ich dir, dass du schweren Herzens dein geliebtes Motorrad verkauft hast. Insgeheim war ich darüber sogar erfreut. Denn zu oft habe ich mir Sorgen gemacht, wenn du mit deinen Freunden im Bergischen unterwegs warst.
Ich habe gemerkt, wie dich das alles belastet hat, wie traurig du warst. Ich habe versucht, dir immer wieder Mut zu machen. Wie haben wir gefeiert, als nach langem, nervenzehrendem Warten, endlich die erlösende Nachricht kam und du deinen neuen Job antreten konntest. Ich bin froh, dass wir das alles gemeinsam durchgestanden haben. Im Nachhinein glaube ich, dass uns das nur noch fester zusammengeschweißt hat. Es war letztlich unsere Liebe, die uns getragen hat.
Du hast ja überhaupt nichts angerührt von dem schönen Frühstück. Egal! Ich bringe das Tablett jetzt runter in die Küche.
Es klingelt an der Haustür. Gedankenverloren geht Trude durch den Flur und öffnet. „Guten Morgen Mama. Entschuldige, ich habe meinen Schlüssel zuhause vergessen. Du bist ja noch gar nicht angezogen! Du weißt doch, dass wir heute um elf im Franziskus Heim sein wollen. Schließlich ist heute Papas Geburtstag! Und er wird sich bestimmt sehr freuen, wenn wir ihm auf dem Balkon zuwinken.“ „Ich weiß Marie, ich weiß! Ich gehe hoch und ziehe mich an. Dann können wir fahren.“


Heinz Strehl
Literatur-Club Sankt Augustin





Entstehung

Kreativität entsteht durch Langeweile und Einsamkeit.
Langeweile entsteht durch Einsamkeit und Geistlosigkeit.
Einsamkeit entsteht durch Geistlosigkeit und Trägheit.
Geistlosigkeit entsteht durch Trägheit und Trauer.
Trägheit entsteht durch Trauer und Verlust.
Trauer entsteht durch Verlust und Angst.
Verlust entsteht durch Angst und Feigheit.
Angst entsteht durch Feigheit und Fremdheit.
Feigheit entsteht durch Fremdheit und Wahrheit.
Fremdheit entsteht durch Wahrheit und Hass.
Wahrheit entsteht durch Hass und Zumutung.
Hass entsteht durch Zumutung und Enttäuschung.
Zumutung entsteht durch Enttäuschung und Liebe.
Enttäuschung entsteht durch Liebe und Hoffnung.
Liebe entsteht durch Hoffnung und Gefühl.
Hoffnung entsteht durch Gefühl und Stärke.
Gefühl entsteht durch Stärke und Geborgenheit.
Stärke entsteht durch Geborgenheit und Freiheit.
Geborgenheit entsteht durch Freiheit und Vertrauen.
Freiheit entsteht durch Vertrauen und Toleranz.
Vertrauen entsteht durch Toleranz und Respekt.
Toleranz entsteht durch Respekt und Anerkennung.
Respekt entsteht durch Anerkennung und Erfolg.
Anerkennung entsteht durch Erfolg und Ehrgeiz.
Erfolg entsteht durch Ehrgeiz und Intelligenz.
Ehrgeiz entsteht durch Intelligenz und Selbstvertrauen.
Intelligenz entsteht durch Selbstvertrauen und Glauben.
Selbstvertrauen entsteht durch Glauben und Wünsche.
Glauben entsteht durch Wünsche und Träume.
Wünsche entstehen durch Träume und Kreativität.
Was man mit seiner Kreativität anfängt, entscheidet jeder für sich.

Elena Ratzlaff





Gespenstisch

Ein Gespenst, durch einen Fluch gebunden,
hat in einer Gruft seinen Ruheplatz gefunden.

Als es nach einhundert Jahren erwacht,
werden Coronaopfer zum Friedhof gebracht.
 
Nun ruht es weitere einhundert Jahr,
weil das hinreichend gespenstig war.
'
Dieter Drechsler





Liebe in den Zeiten von Corona

(Eine komparatistische Fiktion)

Auf dem vorläufigen Höhepunkt der hiesigen Corona-Seuche kurz vorm Wochenende nach Ostern kam unser ältester Enkel Hannes bei uns in Schladern vorbei und begrüßte mich:
„ Hallo Opa, geht es vielleicht, dass ich mit drei netten Freundinnen das Gartenhaus im Paradiesgarten mal für ein paar Tage als Unterkunft nutzen kann. Uns fällt in Troisdorf bei unserer Home-Office-Quarantäne die Decke auf den Kopf. Hier oben bei euch ist alles viel hübscher, ruhiger und weniger riskant. Wir bringen auch alles mit, was wir brauchen und räumen später natürlich wieder gründlich auf. Du kennst mich ja.“
„ OK, Hannes! Du bist ordentlich, vernünftig und alt genug. Und euer Bedürfnis nach ein bisschen Natur und Urigkeit wie im Paradiesgarten kann ich auch gut verstehen. Aber drei Frauen? Bist du sicher, dass du dir das gut überlegt hast und dich nicht überschätzt? Schwebt dir sowas vor wie „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ von Gabriel Garcia Marquez?“
„Nee, Opa, wenn schon was Literarisches, dann eher wie „Das Decamerone“ von Giovanni Boccaccio. Du weißt schon, wo drei Männer und sieben junge Frauen im 14. Jahrhundert aus Florenz vor der Pest-Seuche aufs Land in ein abgelegenes Landhaus fliehen und sich dort zehn Tage lang mit erotischen Geschichten unterhalten. Wie ich dich kenne, hast du das bestimmt schon als Dreizehnjähriger gelesen, oder?“
„Da kannste Recht haben Hannes. Ich hab das sogar mehrmals gelesen, und das trifft eure Situation in abgespeckter Form genau! Aber wollt Ihr euch wirklich nur lauter Geschichten erzählen, oder zieht Ihr euch vielleicht auch ein paar Pornos auf dem Smartphone rein? Komm, sei ehrlich zu deinem Opa!“
„Ojojojo, Mann! Pornos mit drei Frauen auf der Matratze! Wir sind Ende zwanzig! Und hast Du nicht immer gepredigt: Selbst ist der Mann? Also ich bitte Dich!“
Hannes schüttelte sich wie vor Ekel.
„ Jetzt gib mir mal die Schlüssel und komm morgen einfach bei uns vorbei. Ich stell sie dir vor und dann kannst du dir persönlich ein Bild davon machen, was wir so treiben. Ich hab nämlich im Sprinter auch unsere Fahrräder mitgebracht, damit ich den Mädels die Highlights von Windeck zeigen kann!“
So wurd`s gemacht. Ich gab ihm die Schlüssel und ging am nächsten Tag die Situation auskundschaften
Hannes stellte mir seine drei hübschen Freundinnen vor, die Katie, die Chrissie, die Babs. Sie begrüßten mich freundlich, natürlich unter Einhaltung der Abstandsregeln. Das allerdings nur mir gegenüber, nicht untereinander. Das bräuchten sie auch nicht, wie sie mir lächelnd erklärten, da sie alle aus einem Haushalt kämen.
Ich erkundigte mich, wie sie geschlafen hätten, und wies darauf hin, dass die Nacht wohl recht kalt gewesen sei. Sie meinten unisono, nö für sie eigentlich nicht. Es gäbe ja diese tollen Biwak-Schlafsäcke und in dem kleinen Gartenhaus müsse man eh eng zusammenrücken. Damit war für sie das Thema abgehakt.
Zum Abschied begleitete mich der Hannes noch bis zum Gartentor und ich erinnerte ihn an zwei frustrierende Aufenthalte von ihm vor ein paar Jahren, wo ihm die Freundinnen nach solchen Kurzurlauben im Paradiesgarten anschließend weggelaufen waren, weil sie Angst vor Mäusen und Spinnen hatten und meinte:
„Also entwickelt sich vielleicht bei dir doch noch alles wie in „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“, man muss nur lange genug Geduld haben und konsequent am Ball bleiben, oder?“
Hannes schaute in den Himmel, machte ein nachdenkliches Gesicht und antwortete:
„Weißt Du, Opa, es entwickelt sich wohl eher wie in dem preisgekrönten Gedicht von dem Du mir mal erzählt hast, als dieser australische Schafhirte den ersten Preis im internationalen Dichtertreffen von Timbuktu gewonnen hat bei den Vierzeilern, die unbedingt auf Timbuktu enden mussten. Wie ging das noch?“
„Oh, ich weiß, Hannes!“ platzte ich raus und deklamierte:
 
    „When Tim and I to Melbourn went
    We met three women in a tent.
    As they were three and we were two
   I booked one and Tim booked two!”

Hannes winkte mir nach: “Siehste, Opa, du kannst es doch noch!“

Frieder Döring





Es reicht!?

Es war zu warm. Viel zu warm für April!
Allein saß sie auf der morschen Holzbank, die an einem selten genutzten Waldweg langsam verwitterte.
Das trockene Laub raschelte zwischen den Buchen unter den kleinen Krallen der Amsel, die sich wunderte, warum im April, wo der Regenwurmtisch seit Jahrzehnten eigentlich immer gut gedeckt war, nur staubige Erde das Speisezimmer füllte. Es widersprach aller Amselerfahrung.

Bis vor sechs Monaten hatte sie diesen Weg mit ihrer Nachbarin gerne gemacht, aber die, tja, die ging jetzt mit niemandem mehr spazieren. Ihr Nachbar fuhr jetzt alle zwei Tage mit dem Rad auf den Friedhof zu einer dieser Stelen. Es gab da nur ein kleines Väschen neben der Platte mit ihrem Namen, in das er regelmäßig eine weiße Rose steckte.

Sie hatte Kopfschmerzen, nicht nur wegen der Wärme, zu viel Wein gestern Abend, aber gerade am Abend hasste sie das Rattern der Gedanken in ihrem Kopf – im Keller lagen noch genug Flaschen.

Ob sie es schaffen würde, sich nachher, zuhause, zu zwingen, ein paar Yoga-Übungen zu machen? Komisch, irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die Gelenkschmerzen nach dem Yoga in der Gruppe sich verflüchtigten. Wenn sie alleine den „Krieger“ und die „Kobra“ machte, dann half das nicht – also – wozu dann üben?
Die Arthrose im Hüftgelenk knirschte sowieso lautstark vor sich hin. Thermalwasser brachte sie seit fünf Jahren regelmäßig zum Schweigen, die Quelle im Ort sprudelte natürlich weiter, aber keiner lieferte ihr das Wasser frei Badewanne.
„Stell dich nicht so an! Für die Frau in der Wassergymnastik-Gruppe, die sich seit Jahren mit MS herumschlägt, ist es noch viel schlimmer, dass die Therme zu ist!“ Die Elektroantrieb an ihrem Fahrrad hatte Aussetzer, gerade mal ein Jahr hatte sie das Pedelec, wieso ging das Teil jetzt kaputt? Wer würde es ihr jetzt reparieren? Der Fahrradladen war zu, der Blumenladen auch, ihre geliebte Hortensie - im März erfroren und die neuen Blättchen im April vertrocknet... „Stell dich nicht so an! Ist doch nur ne Pflanze!“
Zwei Häuser weiter stellten sie jeden Abend den Rasensprenger für eine, manchmal zwei Stunden an, warum drehte sie dann eigentlich den Wasserhahn ab und ließ nicht einfach laufen, während sie die Seife in den Händen verrieb?
„Stell dich nicht so an!“ sagte sie sich zu dritten Mal. Sie rappelte sich von der Bank hoch, stolperte, griff hinter sich und zog sich einen morschen Splitter in den Finger.
Sie saugte und nagte an ihrem Finger herum, bis es schließlich blutete, aber den Splitter bekam sie trotzdem nicht heraus. In ihrer Jeans fand sie kein Taschentuch, nur den Mundschutz, den sie nach dem Einkaufen in die Hosentasche gestopft hatte. Egal, sie wickelte das Teil, das sie aus einem alten Bettbezug genäht hatte, um die Hand, und machte sich auf den Weg.
Sie verließ den Wald,
ging in den Ort,
ging zur Kirche,
zog einen 20 Euroschein aus der kleinen Tasche vorne an der Jeans - sie hatte das Einkaufs-Wechselgeld einfach dort versenkt, ging zu der Madonnenfigur in der Nische und steckte den Geldschein in den Kasten mit der Aufschrift: 1 Kerze 40 Cent.
Dann nahm sie Kerze um Kerze aus dem Vorrat und zündete sie an, eine nach der anderen. 50 Teelichter baute sie vor Maria auf und brummte vor sich hin, wobei sie ab und an den Blick hob und die Madonna vorwurfsvoll ansah:
„Stell dich nicht so an! Mach deinen Job! Ich kriege das nicht mehr gebacken! Du hast doch den Draht nach oben! Ich hab die Schnauze voll! Ich fühle mich völlig allein gelassen! Ich hab keine Erfahrung mit Pandemie und bei der Pest war ich nicht dabei! Ich hab auch weder Erfahrung mit Fahrrad reparieren, noch kriege ich den Kalk aus meinen Gelenken, und ich kann auch nicht allein das Klima retten! Also mach Dich gefälligst an die Arbeit!
Und wenn’s irgend geht – ein bisschen schneller als üblich!!!“
Zuhause gelang es ihr zumindest, den morschen Splitter mit einer Pinzette aus dem Finger zu ziehen.
 
Maggy Ziegler





Bienensterben

Wiebke de Vries zeigt auf einen leeren Platz am langen Küchentisch, den eine weiße Decke mit zarter blauer Borde ziert. In der Mitte prangt neben einem üppigen Blumenstrauß eine altmodische Teekanne auf einem Stövchen, dessen Kerze schon lange erloschen ist.
»Bitte setzen sie sich doch, - Tee?«,
»Nein danke«, wehrt Kommissarin Frauke Hoekstra höflich ab, setzt sich und sieht Wiebke einige Sekunden schweigend an, die mit melancholischen Augen ins Nichts starrt. Nachdem die Kommissarin mit leiser Stimme die üblichen Formalien aufgenommen hatte, »Sie möchten eine Aussage machen?«
»Ja!«, antwortet Wiebke mit fester Stimme, »es ist aber nicht mit ein paar Worten getan.«
»Kein Problem, erzählen sie.«
»Ich weiß nicht, ob sie mit dem Leben in einem Dorf vertraut sind. Diese Enge unter den rietgedeckten Dächern, mit Traditionen, die über den Menschen stehen, und die allzeitige Gegenwart der Anderen.
Es war für mich wie eine Befreiung, als ich mit achtzehn meine Ausbildung in der »Lindenboom – Apotheke« in Aurich antreten konnte.«
»Zur Apothekerin?«, unterbricht die Kommissarin.
»Als pharmazeutisch-technische Assistentin«, antwortet Wiebke de Vries und setzt ihre Aussage nach einer kurzen Pause, da die Kommissarin keine weitere Frage stellt, fort.
»Ich genoss die Freiheit - und lernte Nils kennen, der in einer Werkstatt für Landmaschinen schon gutes Geld verdiente. Wir verschrieben uns dem Leben, verbrachten die Wochenenden am Strand, tanzten bis zum Umfallen, organisierten Treffen und Ausflüge mit Freunden. Kosteten die ganze Palette aus, - bis bei mir auf einmal die Tage ausblieben. - Amelie kündigte sich an.
Es war eine schöne Hochzeit, die selbstverständlich in meinem Dorf stattfand. Es war auch die Dorfgemeinschaft, die dafür sorgte, dass Nils hier eine eigne Werkstatt eröffnen konnte und in dieser Geborgenheit bekam Amelie knapp zwei Jahre später ihren Bruder Linus.
Wir zogen in unser neues Haus, natürlich mit Rieddach, und unser Familienleben ging in den dörflich behüteten Alltag über, während Nils seine Werkstatt ausbaute und sogar Mechaniker einstellte.
Eigentlich ging es uns gut. Aber viel gemeinsame Zeiten blieben uns nicht. Urlaub? - Der beschränkte sich auf zwei Wochen in den Sommerferien. Mehr war nicht drin, denn entweder war Pflanzzeit oder Erntezeit und wenn nicht mussten die Maschinen der Kunden gewartet werden.
Dafür lebten wir in klaren Verhältnissen. Nils sorgte für das Auskommen und ich kümmerte ich mich ums Haus, die Kinder und unsere beiden Katzen.
An ein Konzert- oder einfach nur an ein Kinobesuch war überhaupt nicht zu denken. Ab und zu gab es mal gemeinsames Kaffeetrinken mit den Landfrauen oder an den Wochenenden die dörflichen Fußballspiele, bei denen Nils als Vorsitzender des Vereins nicht fehlte. Dementsprechend präsentierte sich auch unser Garten. Kirschlorbeerhecke als Windbrecher, Rasen, in der Ecke der längst verwaiste Sandkasten, auf der Terrasse die Biertischgarnitur und vorm Zaun natürlich eine Torwand.
Anfangs war mir der Garten auch nicht wichtig, - bis wir einen neuen Nachbar bekamen, der mit üppigen Blumenrabatten den totalen Kontrast darstellte. Allein wie er sprach und mit den Pflanzen umging, wurde mir bewusst, dass es mehr gibt, als Landmaschinen, Haus und Kinder.
Solange die noch zuhause waren, bemühte sich Nils, die Abende frei zu halten. Aber kaum das Amelie und Linus zum Studium ausgezogen waren, gründete er in Filsum hinter Leer seine lang ersehnte Filiale. Unser Eheleben, - das beschränkte sich auf die Wochenenden, wenn nicht der Fußballverein auch noch dieses bisschen Zeit beanspruchte.

Unterdessen hatte Jens, mein Nachbar, mit der Imkerei begonnen und stellte in seinem Garten Bienenstöcke auf. Der Umgang mit den summenden Honiglieferanten fasziniert mich. Denn inzwischen hatte auch ich Blumenbeete angelegt und wir tauschten uns intensiv aus. Letztlich begann ich auch zu imkern und mit Jens Unterstützung verfügte ich recht bald über drei Bienenvölker, die mich und meine Landfrauen im Dorf mit Honig versorgten.

Währenddessen machte die Filiale in Filsum richtig Probleme, worauf sich Nils dort ein Appartement mietete, um vor Ort zu sein. Nun sahen wir uns noch seltener, und wenn er denn mal anrief, sprach er nur von Schwierigkeiten. Sogar den Silvester verbrachte er dort, um zusammen mit der Sekretärin den Jahresabschluss durchzuführen.
Aber ich vermisste ihn kaum. Denn ich hatte für mich die Textilmalerei mit Naturfarben entdeckt, die ich zum Teil aus meinen Pflanzen gewinnen konnte. Hinzu kam, dass die von mir bemalten Blusen und Kleider sich unerwartet zum Renner entwickelten, sodass ich die Nachfrage oft kaum bewältigen konnte.
Der Garten sorgte für zusätzliche Aufgaben, aber zum Glück hatte ich ja Jens, obwohl er mit seinem eigenen Blumen auch genug zu tun hatte. Jedenfalls freuten sich mit mir auch meine Bienen über die Blütenpracht, die sich inzwischen in all meinen Rabatten entfaltete. Neben den Gartenblumen und Färberpflanzen hatte ich zusätzlich Kräuter gesetzt, die ich aus meiner Zeit als Apothekerin kannte, und verteilte sie frisch oder getrocknet als Tees im Dorf, wenn es um kleinere Unpässlichkeiten ging.
Es war erst vorletzte Woche, als Nils nach dem sonntäglichen Fußballspiel wieder mal Vereinskollegen mitbrachte, um mit ihnen in meinem Garten den Sieg zu feiern, weil der Dorfkrug wegen Corona geschlossen hatte. Die Bierkästen leerte sich schnell, und es dauerte nicht lange, da verlangte er ziemlich betütert nach dem Fußball, um auf die Torwand zu schießen, die halb verrottet immer noch hinter meinen Blumenrabatten am Ende des Gartens stand.
Nur mit Mühe gelang es mir und seinen Kollegen, ihn davon abzubringen. Worauf er wütend ankündigte, trotz Corona in den Dorfkrug umzuziehen.«
»Passierte so etwas öfter?«, fragt die Kommissarin.
»In letzter Zeit leider ja. – Was soll’s«, Wiebke macht eine relativierende Geste, »da er montags eh wieder nach Filsum fuhr, konnte ich doch ungestört wieder im Garten arbeiten - und meine Bienen melken. Das heißt, sie zu fangen und ihnen vorsichtig etwas Gift abzunehmen, das ich in einem kleinen braunen Fläschchen sammelte. Über achthundert Bienen mussten ihr Quäntchen spenden, bis ich meinte, genug zu haben.
Mit diesem goldglänzenden Bienengift, das übrigens für Menschen auf der Haut aufgetragen, völlig unschädlich ist, bemalte ich dann ein T-Shirt mit einem floralen Muster. Ich bin mir sicher, meinen Bienen hätte es auch gefallen.
Dann kam das mit den Corona Ausgangsbeschränkungen, die Filiale in Filsum musste schließen, und Nils kam gestern Abend tatsächlich mal nachhause. Was nicht mehr selbstverständlich war, und es gab nur ein Thema: Filsum, Landmaschinen, und dass die Sekretärin arbeitslos ist. Heute beim Frühstück ging es natürlich damit weiter.
Ob nun deswegen oder trotzdem, jedenfalls bat ich ihn, mir beim Umsetzen eines Apfelbäumchens zu helfen, weil es zu nahe am der Grundstückgrenze stand.
Es war gegen zehn, als wir in den Garten traten. Die Bienen summten und ein Duft, wie er nur an solch einem sonnigen Morgen möglich ist, erfüllte die Luft. In dieser Stimmung drängte ich ihn, das neue bemalte T-Shirt überzuziehen. Ich war neugierig, wie es in diesem frühen Licht wirkte, - und sollte es bereuen.«
Wiebke holt tief Luft, ehe sie weiter erzählen kann.
»Ja, er zog es mir zuliebe an, aber meine im Sonnenlicht irisierende Bemalung beachtete er nicht! Sondern er griff wortlos nach dem Spaten und stapfte mitten durch meine Rabatte zu dem besagten Bäumchen. Um weitere Lateralschäden in meinen Blumenbeeten und bei dem T-Shirt zu vermeiden, ging ich vorsichtshalber mit.
Während wir nun gemeinsam das Bäumchen ausbuddelten, passierte es. Um freigelegte Wurzeln mit Sackleinen zu schützen, hatte ich meinen Spaten am Rand der Grube einfach in die Erde gesteckt, um die Hände frei zu haben. Als ich mich anschließend wieder aufrichtete, und blind nach ihm hangelte, rempelte ich ihn dabei nur leicht an. Dennoch, der Spaten kippte nach hinten weg und knallte gegen Jens Bienenhaus.

Was dann geschah, war ein Alptraum.
Aus allen vier Stöcken flogen seine Bienen aus und stürzten sich auf Nils, - mich beachteten sie gar nicht. Ein Brausen, wie ich es noch nie gehört hatte, erfüllte die Luft, und ehe Nils fliehen konnte, war er in wenigen Sekunden vollständig von Bienen bedeckt. Erst im Gesicht, dann überall tausendfach gestochen sackte er taumelnd um sich schlagend zu Boden.
Jens, der diese Tragödie zufällig beobachtet hatte, rannte hinzu, um zu helfen. Mit bloßen Händen versuchte er verzweifelt seine mörderischen Bienen von Nils abzustreifen. Aber es gelang ihm nicht. Im Gegenteil, nun wurde er selbst von seinen Schützlingen angegriffen. Ich schrie ihn noch an, er sollte doch wegrennen, aber es war zu spät. Er brach wie Nils noch im Blumenbeet zusammen.«

Wiebke unterbricht ihren Bericht und sieht mit Tränen in den Augen die Kommissarin an.
»Beiden war nicht mehr zu helfen!«, schluchzt sie, »Mein Gott, verstehen sie das überhaupt, - Beiden!«
Kommissarin Frauke Hoekstra nickt zustimmend, wartet mitfühlend einige Sekunden, blickt nochmal kurz auf ihr Notizbuch, ehe sie Wiebke ernst ansieht.
»Ich bin mir sicher, dass sie es nicht überrascht. - Frau de Vries, ich muss sie leider festnehmen. Als Apothekerin wissen sie es sicherlich besser als ich, dass der Geruch, auch von getrocknetem Bienengift, Bienen ungewöhnlich aggressiv macht.«
Wiebke zögert einen Augenblick, ehe sie resigniert die Schultern hochzieht und, »Sie kennen das?«, heraus seufzt.
»Ja«, antwortet die Kommissarin, »denn ich habe selbst einige Stöcke und wäre eine schlechte Imkerin, wenn mir die Pheromone meiner Mädels nicht sehr vertraut wären.«

Dieter Drechsler





Homeoffice

Vier Wochen im Homeoffice – und ich bin vollkommen verzweifelt!
Nicht einmal annähernd habe ich meine gewohnte Produktivität erreicht!
Am ersten Tag war ich noch ungeheuer diszipliniert, habe ohne Pause durchgearbeitet und erst gegen 20:30 Uhr gemerkt, dass mein klassischer Arbeitstag eigentlich schon längst vorbei war; was wohl daran gelegen hat, dass ich ja Zuhause war und nicht erst, wie sonst, nach Hause fahren musste. Und Zuhause schaut eben nicht mal kurz ein Kollege rein und wünscht mir einen schönen Feierabend oder sagt, ich solle nicht mehr so lange machen…

Am ersten Tag Homeoffice habe ich noch fest an meine erhöhte Produktivität geglaubt, war ich doch der Überzeugung, wesentlich störungsfreier arbeiten zu können, mir keine ‚ Laberbacken‘ vom Hals halten oder mich mit ‚Kannst du grade mal für mich‘-Bitten einzelner Kollegen auseinander setzen zu müssen.
Zudem war der erste Tag etwas ganz Besonderes; ich hatte irgendwie einen ‚jetzt- erst-Recht‘-Anspruch an mich und wollte gewissermaßen mit aller Kraft gegen die Corona-Krise anarbeiten. Aber schon gegen Ende der ersten Woche war mir ein Großteil meiner Disziplin abhanden gekommen; und es ist dann von Tag zu Tag schlimmer geworden; die Fallzahlen stiegen täglich, meine Selbstdisziplin hingegen nahm täglich ab.
Ich konnte nicht mehr länger an einem Stück am Rechner sitzen, meine Mails bearbeiten, Anfragen beantworten, Angebote schreiben, Konzepte entwickeln… - immer wieder schweiften meine Gedanken ab; weil ich ja jetzt Zuhause meinen Arbeitsplatz hatte, kam mir ständig in den Sinn, was ich – neben meiner Arbeit – alles zwischendurch erledigen könnte:
- Wäsche zusammensuchen und in die Maschine packen, den Rest erledigte der Apparat dann ja gänzlich ohne mein Zutun.
-Spülmaschine einräumen und dann natürlich auch wieder ausräumen; dabei merkte ich, wie wichtig die optimale Geschirranordnung für einen möglichst effektiven Spülgang war.
- Zum Briefkasten gehen und nachschauen, ob die Postbotin heute schon etwas eingeworfen hatte (mit der Zeit versuchte ich sie abzupassen, um zumindest einmal am Tag ein paar Worte wechseln zu können, wenn auch aus der Distanz).
- Alle zehn Minuten nur mal kurz das Smartphone zur Hand nehmen, um das Gefühl zu bekommen, noch Teil der Welt zu sein (kam im Büro nicht auch alle zehn Minuten jemand reingeschneit und hielt mich von der Arbeit ab?).
- Nie vorher war mir der Staub in meiner Wohnung aufgefallen – jetzt saugte ich andauernd schnell zwischendurch sämtliche Bodenflächen.

In meiner zweiten Homeoffice-Woche habe ich meine Fenster geputzt und täglich gebügelt und eine große Hochachtung vor diesen Tätigkeiten empfunden. Beim Abtauen des Kühlschranks war ich dann doch erstaunt, bei wie vielen der dort gelagerten Lebensmittel das Ablaufdatum bereits für mehr als ein Jahr überschritten war. Und ich dachte noch, mit der klassischen Büroarbeit, wie vor der Krise, kommt man ja in seinem eigenen Zuhause zu nichts…

Der große Absturz kam dann in meiner dritten Homeoffice-Woche. Weil ich mich nämlich schon lange nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren konnte, habe ich dann ein paar Pornoseiten aufgerufen, in der Hoffnung, dass mich das irgendwie remotivieren könnte; in der Nachbetrachtung frage ich mich allerdings, ob ich da nicht was verwechsle und vielmehr der Besuch der Pornoseiten meiner beklagenswerten Konzentrationsstörung vorangegangen war.
Egal. Es ist wie es ist.
Auch bin ich – vor allem, wenn ich mit einer nervtötenden Exel-Liste nicht weiter gekommen bin – andauernd in die Küche geflüchtet, um mir einen trostspendenden Schokoriegel zu genehmigen.
Durch mein ständiges hin und her zwischen meinem Bürorollstuhl und sämtlichen anderen Räumen meiner Wohnung hatte ich selbst mich am Ende eines jeden Tages zwar viel, rein arbeitstechnisch betrachtet aber recht wenig bewegt.

Am Ende der dritten Woche habe ich dann eine zunehmende Unzufriedenheit an mir festgestellt. Jeder Anruf mit Arbeitsbezug machte mir ein richtig schlechtes Gewissen, fühlte ich mich doch in meiner Ineffektivität förmlich kalt erwischt. Das Klingeln ließ mich regelrecht zusammenzucken. Und weil Angriff ja bekanntlich die beste Verteidigung ist, bin ich die unschuldigen Anrufer dann mit aggressiver Gereiztheit angegangen. Noch scheine ich zu merken, wie mich das Homeoffice von Tag zu Tag mehr verändert – doch wann wird der Tag kommen, wo es mir nicht mehr bewusst ist und aus mir ein schrulliger Eigenbrötler oder auch ein regelrechtes Sozialarsch geworden ist…
Ab der Mitte meiner vierten Homeofficewoche bin ich gleich für den ganzen Tag im Bademantel geblieben; ich hatte keinen Grund mehr gesehen, mich irgendwie für irgendeine Öffentlichkeit anzukleiden. Zudem war ein Bademantel einfach enorm praktisch. Ich habe – zugegebenermaßen – um einiges häufiger mit Lucy-Love, Sweet Maggy Mae und Eruptive Girl gechattet, als mit den (bald hätte ich schon gesagt ‚ehemaligen‘) Kollegen telefoniert. Und diese Chats gingen richtig ins Geld! Das habe ich mir zunächst auch richtig was kosten lassen müssen und in einer Zeit reduzierter zwischenmenschlicher Nähe sind die Preise wohl dem gestiegenen Bedarf entsprechend gleich mit gestiegen. Als Mensch braucht man halt eine Minimaldosis Zuwendung, um nicht vor die Hunde zu gehen; wenn man ansonsten schon zum ‚social distancing‘ gezwungen ist.
Ich bastele gerade an einer neuen Exel-Liste. Wenn mir im Homeoffice schon alle Selbstdisziplin entglitten ist, so möchte ich doch zumindest die Kostenkontrolle über Lucy Love und ihre Freundinnen behalten. Das hilft mir dann doch ein wenig, meine Verzweiflung in Grenzen zu halten.

Meine Überlegungen zum Homeoffice sind noch nicht abgeschlossen; es ist wahrlich nicht alles optimal, aber das gilt auch fürs Büro; ich werde Sie auf dem Laufenden halten – bis die Tage!!!





Homeoffice-Die Fortsetzung

Mittlerweile hatte ich weitere zwei Wochen Homeoffice hinter mich gebracht; und eins war mir klar geworden – nämlich dass es so auf keinen Fall weitergehen konnte. Meine Produktivität war weiter gesunken, gefühlt sogar unter Null; was nichts anderes bedeutete, als dass ich nicht nur meine Arbeit nicht schaffte, also ‚prokrastinierte‘ wie man so schön sagte, weil ich nämlich täglich sämtliche Aufgaben auf den jeweils nächsten Tag verschob, sondern auch aufgehört hatte, mich um mich selbst zu kümmern – mein inzwischen ziemlich bekleckerter Bademantel war ein untrügliches Indiz hierfür. Es musste etwas passieren – und zwar sofort, bevor ich auch noch das letzte bisschen Selbstrespekt verloren haben würde. Aber ich war ja nicht der Einzige, der zur Zeit im Homeoffice war.
Wie es wohl die anderen anstellten, zumindest einigermaßen konzentriert zu arbeiten, aufrecht an ihren Schreibtischen sitzend und nicht wie ich - halb liegend auf dem Sofa, den Laptop auf dem Schoß, dumpf die auf dem Bildschirm abgebildeten Tabellen nur am Rande des Bewusstseins zur Kenntnis nehmend, weil das kleine Fenster rechts oben auf dem Desktop, der Chat mit Lucy Love oder einer ihrer Freundinnen, meine eigentliche Aufmerksamkeit forderte.
 Ich wusste ja, dass ich alle notwendigen Kompetenzen besaß, um meine Aufgaben gut zu erledigen und die alljährliche Prämienausschüttung war eine nicht leugbare Bestätigung meiner grundsätzlichen Arbeitsqualitäten. Nur hatte ich im Homeoffice offensichtlich den Zugang zu meinen Kompetenzen nahezu vollkommen verloren und empfand mich schon fast als den größten Loser im gesamten Universum… und es wäre nur noch eine Frage von Tagen, bis auch Lucy Love es merken würde… und dann wäre ich endgültig und vollständig am Boden zerstört…
Wem aber hätte ich meine aktuelle Situation schildern und um ein paar hilfreiche Tipps bitten können? Auf gar keinen Fall meine männlichen Kollegen – vielleicht ging es denen ja nicht anders als mir, was zumindest ein kleiner Trost wäre. Und sich den beiden Damen im Team zu öffnen, schien mir gänzlich ausgeschlossen. Zumal die beiden als junge Mütter ja gar keine Chance hatten, sich derart strukturlos durch den Tag treiben zu lassen; Ehemann und Kinder würden ihnen dann nämlich gewaltig aufs Dach steigen.
Was hatte ich da gerade gedacht? Das war‘s! Heureka! Durch die Hintertür war sie gekommen, die Lösung: Ich brauchte Struktur, einen geplanten Tag. Das wusste ich jetzt. Schritt Nummer eins war getan. Die Idee war geboren, jetzt musste sie nur noch Laufen lernen; ein gutes Bild eigentlich - ‚Laufen lernen‘… irgendwann in meinem Leben hatte ich es schließlich auch gelernt, nach unzähligen Versuchen und häufigem Hinfallen war mir der aufrechte Gang gelungen; ich hatte einfach weitergemacht, nicht aufgegeben, jeder gescheiterte Versuch hatte mich wieder einen Schritt weiter gebracht, aufstehen und weiter, aufstehen und weiter; entscheidend war zunächst der feste Wille, wohl gestärkt durch ein attraktives Ziel – laufen können, um endlich die Welt zu erobern; jetzt war natürlich nicht ‚Laufen lernen‘ mein Ziel, aber vielleicht ja die Wiedererlangung meines Selbstrespekts! Schließlich kann man stets und immer ganz viel wollen und es klappt trotzdem nicht, weil das Wollen allein zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist; das Wollen war zwar eine durchaus lobenswerte und auch gut gemeinte Absichtsbekundung, hieß allerdings noch gar nichts – ‚Machen‘ war wohl das Zauberwort! Hatte ich irgendwo mal so ähnlich gehört: „Machen ist wie Wollen – nur viel krasser!“
Ich spürte einen inneren Anschub, klappte meinen Laptop zu - ohne mich von Lucy Love verabschiedet zu haben - und ging in die Küche, um mir einen Kaffee zuzubereiten. Ich hatte das Gefühl, es sei bei mir etwas in Bewegung gekommen; ein junges Pflänzlein war einem Keim entsprungen… und dieses junge Pflänzlein brauchte jetzt eine kleine Stütze, damit es wachsen konnte.
So war mir dann die Idee gekommen, mich zwecks ‚Wachstumsstütze‘ an einen Online-Coach zu wenden. So würde ich gewissermaßen von meinem Homeoffice aus mit dem Homeoffice eines Coaches kommunizieren.
Bei meiner Recherche im Netz war ich dann auch recht schnell auf einen Coach gestoßen, aus dessen Homepage ich auf eine Eignung für mein Anliegen schließen konnte. Ein erster Termin war schnell und unkompliziert mittels Telefon verabredet. Wir hatten uns auf eine einstündige Online-Konferenz am folgenden Vormittag geeinigt.
Selbstverständlich hatte ich den Tag, an dem das erste Coaching stattfinden sollte, völlig anders begonnen, als all die Homeoffice-Tage der vergangenen Wochen: Ich hatte geduscht, gefrühstückt und mir was Ordentliches angezogen – quasi als wenn ich ins Büro ginge. Die erste Frage des Coaches war dann, was denn mein Ziel für die Beratung sei. Als ich dann ansetzte, meine Problemsituation zu schildern unterbrach mich der Coach prompt und wiederholte die Frage nach dem Ziel, mit der Erläuterung, wir wollten ja schließlich nicht das Problem besprechen, sondern geeignete Lösungen erfinden; ich könne natürlich, falls ich dies bevorzugen würde, mich selbst und mein aktuelles Leben, meinen aktuellen Zustand, weiter problematisieren, aber dafür würde ich ja sicher keinen Coach benötigen und bezahlen wollen. Da hatte ich dann nach kurzem Zögern nur zustimmen können. „Und wenn Sie dann Ihr Veränderungsziel klar haben, dann können wir immer nochmal zurückschauen aufs Problem und woher es eigentlich rührt“ fügte der Coach noch an.

Ich war dann, nach kurzem Überlegen, doch einigermaßen erstaunt, wie klar ich mein Ziel, bereits vor Augen hatte:
Am Ende eines Homeoffice-Arbeitstages wollte ich nämlich das Gefühl haben, etwas geschafft zu haben ohne aber selbst komplett geschafft zu sein. Das würde mir nämlich erlauben, zufrieden auf meinen Arbeitstag zurückzublicken und noch positive Energien für die verbleibenden Stunden, für die Lieblingsbeschäftigungen, zur Verfügung zu haben. Ich müsste dann auch nicht mehr bis Mitten in die Nacht hinein wach bleiben, aus dem Gefühl heraus, heute noch nicht genug gelebt zu haben. Ich würde ab morgen meinen Tag genau planen – und zwar von hinten her! Ich würde zuerst mein Arbeitsende bestimmen und von diesem Ende her festlegen, was meine Tagesprioritäten sein würden. Ich würde ausreichend Pausen einplanen, um mein Energielevel für den Tag konstant hoch zu halten. Und ich würde mein Smartphone außer Reichweite parken. Der Effekt wäre insgesamt eine totale Fokussierung auf die Aufgaben. Ich würde jeden Morgen zur selben Zeit aufstehen, einen 20-Minuten-Lauf absolvieren, sodann Dusche und leichtes Frühstück; um 8:30 Uhr würde ich am Schreibtisch sitzen. Weil mir das Soziale hier im Homeoffice fehle und ich so das Gefühl hätte, mit meiner Arbeit im luftleeren Raum rumzuhängen, und das auch noch völlig resonanzlos, würde ich meinen Kollegen ein morgendliches Online-Mini-Meeting vorschlagen, um ein wenig zu quatschen, aber auch um die Arbeitsplanungen und -fortschritte zu besprechen. Zusammen ist man halt weniger allein!
So hatte ich dann im Gespräch mit dem Coach meinen kommenden Arbeitstagen im Homeoffice eine Struktur verpasst und freute mich geradewegs, damit loslegen zu können, meinen Niedergang zu stoppen. Und genaugenommen war es, das war mir im Nachgang klar geworden, eigentlich gar kein Gespräch gewesen – schließlich hatte der Coach in den insgesamt 50 Minuten inhaltlich rein gar nichts von sich gegeben - nur diese einzige Frage nach dem Ziel hatte er gestellt und sonst nichts weiter unternommen!
Wir hatten uns dann noch zu einem zweiten Termin in der kommenden Woche verabredet, um die Fortschritte zu begutachten. Warum hatte der Coach eigentlich von Fortschritten gesprochen? Wie konnte er schon jetzt wissen, dass es Fortschritte zu verzeichnen geben würde? Sein Schlusssatz war auch nicht gewesen „Schauen wir mal, ob es ihnen gelingen wird“ sondern „Wir sprechen dann darüber, wie es ihnen gelungen ist.“
Und interessanterweise hatte das in meinen Ohren um einiges motivierender geklungen und mich ziemlich zuversichtlich gestimmt!
Die Woche war dann vergangen wie im Flug; ich hatte genau das gemacht, was ich mir vorgenommen hatte. Tatsächlich war ich äußerst zufrieden mit mir selbst gewesen und freute mich, dem Coach davon Bericht erstatten zu können. Homeoffice schien kein Selbstläufer zu sein und bedurfte anscheinend - zumindest galt das offensichtlich für mich - einer gewissen Umgewöhnung. Das klassische, gewohnte Büroumfeld hielt offensichtlich genug Schlüsselreize bereit, um in den Arbeitsmodus zu kommen und ich hatte ja als sich täglich wiederholendes Ritual immer auch den Weg zur Arbeit– zuhause hingegen lauerten die Ablenkungsmöglichkeiten der Privatwelt und erschwerten – zumindest bis vor kurzem - die notwendige Arbeitsdisziplin.
Ich war gespannt auf die zweite Coaching-Sitzung und dann doch sehr erstaunt über den völlig anderen Verlauf, weil diesmal ich derjenige war, dem weitgehend die Rolle des Zuhörers zugedacht war – und das für nahezu die gesamten 50 Minuten.
Nach einer kurzen Begrüßung hatte der Coach gleich losgelegt: „Sie sehen im Gegensatz zu letzter Woche sehr zufrieden aus – mit sich und der Welt. Ihr Erfolg ist offensichtlich! Und wir könnten hier eigentlich abbrechen; aber ich hatte Ihnen ja versprochen, Ihnen etwas zu den möglichen Hintergründen Ihrer Arbeitsstörung zu sagen… und das will ich hiermit tun. Vorab bitte ich Sie, folgendes zu bedenken: Sie haben nämlich die Wahl; sie können sich die Gründe dafür, dass Sie so sind, wie Sie sind aussuchen. Es ist nämlich alles nur eine Konstruktion – und weil Sie selbst der Konstrukteur sind, haben Sie auch die Wahl; Biographie ist ein Spiel, suchen Sie sich eine mehr oder weniger passende Geschichte aus und glauben Sie dran, sie werden sie mit der Zeit für die Wirklichkeit halten und weiter damit leben müssen. ‚So bin ich halt, weil das und das in meinem Leben passiert ist‘ - daran glauben wir. Genausogut könnten wir uns aber auch die Frage stellen ‚wer will ich sein‘ und uns danach verhalten… aber diese Frage stellen sich die wenigsten.

 Sie könnten jetzt beispielsweise sagen, dass Sie wegen irgendwelcher frühkindlicher Vorkommnisse nicht zu einer angemessenen Stimuluskontrolle in der Lage sind, was Sie natürlich ungemein ablenkbar macht… diese Ablenkungen könnten äußere Stimuli sein, wie der Signalton einer neu eingetroffenen Kurznachricht oder innere Stimuli wie der plötzliche Appetit auf etwas Süßes oder der unvermittelte Gedanke, was Sie jetzt gerade einmal zwischendurch tun könnten… und schon haben Sie mit dem Frühkindlichen eine Erklärung für den von Ihnen beklagten Mangel an Arbeitsdisziplin; und wenn Sie erstmal die Ursache gefunden haben, dann glauben Sie natürlich fest daran, dass Sie zunächst gegen die Ursache angehen müssen, bevor sich für Sie überhaupt etwas verändern kann. Aber wie wollen Sie gegen das frühkindliche Vorkommnis angehen? Zumal es schon längst vorbei und somit auch nicht greifbar ist? Dann erleben Sie Ihre Arbeitsstörung quasi als fest zu Ihnen gehörig und verlieren sämtliche Hoffnung auf irgendeine Besserung und glauben, therapiebedürftig zu sein. Sie geben sich eine Diagnose und verhalten sich adäquat zur Diagnose. Es sind schon Menschen gestorben, die völlig gesund waren, denen aber fälschlicherweise die Diagnose einer bald zum Tode führenden Krankheit mitgeteilt worden ist. Also passen Sie auf mit Ihrer Selbstdiagnose oder auch mit der Diagnose irgendeines Therapeuten.
Alternativ zur Ursache ‚frühkindliches Vorkommnis‘ könnten Sie auch sagen, dass Sie als Scheidungskind von einer durch Schuldgefühle geplagten Mutter kompensatorisch verwöhnt und überversorgt worden sind; und zwar so, dass Ihnen auch heute noch kein Bedürfnisaufschub gelingt, was zu ständigen Arbeitsunterbrechungen zwecks unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung führt – das bekamen Sie im Büro allerdings kontrolliert, wegen der sozialen Kontrolle durch die Kollegen, die ja im Homeoffice entfällt.
Vielleicht haben Sie sich aber auch früher gegenüber einem dominanten Vater stets klein gefühlt – was Sie zwar damals tatsächlich waren, aber heute nicht mehr sind – klein und unfähig, schließlich hat dieser Vater im Kampf um die geliebte Mutter auch immer gewonnen… und genau diese Gefühle überkommen Sie unbewusst zuhause im Homeoffice… und um sich zu beweisen, dass Sie doch gegen den übermächtigen Vater anstinken können, kontaktieren Sie anstatt zu arbeiten – ist jetzt nur ein Beispiel – Frauen im Internet, die Sie für eine Dienstleistung bezahlen, was man ja auch als eine Form von Dominanz deuten könnte.
Vielleicht ist es aber auch eine Art verspäteter Verweigerung gegenüber dem dominanten Vater, die Sie sich als Kind natürlich nicht leisten konnten, die sich heute aber gewissermaßen als Reinszenierung in einer unbewussten Leistungsverweigerung gegenüber Ihrem Arbeitgeber ausdrückt…
Wie gesagt – Sie können sich da was aussuchen und von mir aus auch dran glauben, wenn das für Sie irgendeinen Nutzen haben sollte… Nur um ein Beispiel zu nennen: Selbstmitleid könnte so ein Nutzen sein – das intensive Erleben von Selbstmitleid geht nämlich einher mit der Erlaubnis, passiv bleiben zu dürfen und sich weiter als Opfer von irgendetwas erleben zu können, was schon längst vorbei ist. Wie gesagt – Sie haben die Wahl… Noch Fragen?“
Ich hatte keine. Und fügte dann doch noch an, dass ich eine richtig gute Homeoffice-Woche hinter mich gebracht hatte und auch sehr zuversichtlich in die Zukunft blicke. Was mich auch erleichtere, weil die Corona-Krise ja wohl noch dauern würde. Alles war gut – ich hatte meine Wahl getroffen.

Wie viel der Coach doch von mir wusste, obwohl er mich ja eigentlich gar nicht kannte! Dass ich mich von Lucy Love’s Freundinnen in der Woche endgültig verabschiedet hatte, mir nach einem guten Tag im Homeoffice aber weiterhin einen anregenden Chat mit L.L. gönnte, das hatte ich dem Coach dann doch verschwiegen.

Michael Blum